Die Time Catcher
nein«, antworte ich. Was der Wahrheit entspricht. Weltpolitik gehört nicht gerade zu meinen Fachgebieten. Ich verfolge die Nachrichten nur sporadisch und im Netz lese ich bloß die Sportberichterstattung.
»D ann will ich es dir erklären«, sagt er. »E s ist zustande gekommen, weil die beiden mächtigsten Staaten der Welt begriffen haben, dass sie etwas brauchten, das ihnen nur der andere geben konnte.«
»I ch verstehe«, entgegne ich, dabei verstehe ich im Moment nur, dass im Aquarium ein heftiger Zweikampf vor sich geht.
»D enk darüber nach«, fährt er fort. »E s gibt ein universelles Bedürfnis, eine gemeinsame Sehnsucht aller Menschen, die keine der beiden großen Nationen allein befriedigen kann. Es ist die Nostalgie. Der Wunsch, einen kleinen Teil der Vergangenheit sein Eigen zu nennen.
Edles für die Ewigkeit kommt diesem Bedürfnis nach«, fährt Onkel fort. »W ir allein können es befriedigen. Aber das ist noch nicht alles. Denn durch das Große Freundschaftsabkommen hat sich der potenzielle Markt für unsere Dienstleistungen sprunghaft vergrößert. In China leben fünf Milliarden Menschen, Caleb. Wenn sich nur ein Prozent von einem Prozent dieser Menschen dafür entscheidet, unsere Dienste in Anspruch zu nehmen, dann gewinnen wir eine halbe Million neue Kunden.«
Eine halbe Million. Das ist eine gewaltige Zahl. Selbst wenn Abbie, ich und die anderen unsere Einsätze vervielfachen, sind wir nicht in der Lage, die ungeheure Nachfrage zu befriedigen.
»W ir müssen diese Gelegenheit beim Schopf packen. Müssen unsere neuen Möglichkeiten nutzen. Die Zeit ist reif, um unsere Firma auf ein völlig neues Niveau zu heben. Die Zeit ist reif, die Anzahl der Time Catcher von fünf auf einhundert zu erhöhen!«
Onkels Augen leuchten. Er glaubt wirklich an seine eigenen Worte. Mein Mund wird trocken. Mir gefallen diese Worte ganz und gar nicht. Mehr Time Catcher bedeutet mehr »e ingesammelte«, also gekidnappte Jungen und Mädchen. Mario wollte ja neulich schon, dass ich ihm bei der Entführung unschuldiger Kinder helfe.
»E in so großes Projekt kann nicht von einem einzigen Mann allein getragen werden, Caleb«, sagt er. Die Ader auf seiner Stirn pulst jetzt wie verrückt. »I ch brauche Generäle, um den Traum Realität werden zu lassen.«
Meine Hände beginnen zu zittern. Am liebsten würde ich aufstehen und sofort den Raum verlassen. Aber das ist unmöglich.
»S chon sehr bald«, fährt er fort, »w erde ich das Team beisammenhaben, das Edles für die Ewigkeit in eine glorreiche Zukunft führen wird. Und Caleb …«
»J a, Onkel«, entgegne ich mit zitternder Stimme.
»I n nächster Zeit werde ich dich und Mario sehr genau beobachten«, sagt er lächelnd. »I n diesem Monat liegst du mit neunzehn zu sechzehn gelungenen Diebstählen in Führung. Doch wenn man den Schwierigkeitsgrad der einzelnen Missionen bedenkt, dann würde ich doch sagen, dass Mario die Nase vorn hat.«
Ich knirsche mit den Zähnen. Ich hatte schon damit gerechnet, dass er die Anzahl unserer Diebstähle miteinander vergleichen würde. Doch hatte ich nicht bedacht, dass Onkel ein Meister darin ist, die Tatsachen so zu verdrehen, wie es ihm dienlich ist.
»W eißt du, warum Mario so gute Arbeit leistet?«
Klar – weil er mir meine Beute klaut, hätte ich am liebsten geantwortet. Doch wenn ich das sage, wird er mir entweder nicht glauben oder die Worte so im Mund herumdrehen, dass es schließlich doch meine Schuld ist. Also antworte ich: »N ein, Onkel.«
»I ch werde dir sagen, warum«, erwidert Onkel. »W eil er eine besondere Fähigkeit hat, die keiner meiner anderen Time Catcher besitzt. Auch du nicht, Caleb, wie ich leider feststellen musste.«
Mir wird plötzlich sehr warm. Hoffentlich ist unser Gespräch bald vorbei.
»M ario hat das, was ich echte Leidenschaft nenne. Er ist jedes Mal Feuer und Flamme, wenn eine neue Mission ansteht. Und wenn es so weit ist, konzentriert er sich voll und ganz auf den Catch und lässt sich durch keinerlei Begleitumstände ablenken.«
»I ch bin nicht Mario, Onkel«, entgegne ich und bereue meine Worte sofort. Nicht weil sie nicht wahr wären, sondern weil ich gar nicht erst versucht habe zu verhehlen, dass ich Mario nicht ausstehen kann.
»G enau das ist der Punkt«, erwidert Onkel. »D u bist nicht Mario. Aber um erfolgreich zu sein, Caleb, um die hohen Erwartungen zu erfüllen, die ich an dich stelle, musst du mehr wie Mario werden.«
Lieber würde ich sterben … was,
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