Die Time Catcher
zieht ihn mit sich fort in Richtung Ausgang.
Danke, Louise, formen lautlos meine Lippen, bevor Abbie und ich erneut zum Sicherungskasten eilen.
Ich setze den Mikrosensor auf die Sicherung und programmiere ihn so, dass auf mein Kommando hin sämtliche Lichter im Pavillon ausgehen werden. Ab diesem Moment werden wir dreißig Sekunden Zeit haben, bis ein Notstromaggregat automatisch die Versorgung übernimmt. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Wir hasten zur Rolltreppe. Abbie ist vor mir da und fährt sofort nach oben. Ich werde von einem Mann und einem rothaarigen Jungen aufgehalten. Ich will mich an ihnen vorbeidrängen, doch sie stehen dicht beieinander, und neben ihnen ist kein Platz für mich.
»S chau mal, Daddy«, ruft der Junge. »D iese Leute sind so klein wie mein Soldat!« Er greift in seine Tasche und zieht eine Spielfigur heraus.
Der Anblick des kleinen Plastiksoldaten löst seltsame Gefühle und Erinnerungen bei mir aus. Für einen kurzen Moment ist die Rolltreppe verschwunden und die Mission vergessen. Ich bin ein kleiner Junge, der auf Onkels Schoß sitzt und ihm stolz seinen Spielzeugsoldaten zeigt. Vergessene Gefühle von Wärme, Sehnsucht, ja Liebe steigen in mir auf.
Ich versuche, diesen Moment festzuhalten, doch schon ist er wieder verschwunden, und ich bin in die Realität zurückgekehrt.
»D ie sehen so klein aus, weil sie weit weg sind«, entgegnet der Vater.
»W ie machen sie das?«, fragt der Junge.
Der Vater lacht und antwortet: »S ie machen das nicht, Ben. Es ist das Gesetz der Perspektive.«
Ich senke meinen Blick. 19:28 Uhr. Die Zeit wird knapp.
Endlich erreicht die Rolltreppe den ersten Stock. Ich spurte los, an einem Ausstellungsstück aus Bambus vorbei, zu dem auch eine gefährlich aussehende Armbrust gehört.
Dann sehe ich ihn – hinter Glas. Den Gegenstand, wegen dem Abbie und ich vierundneunzig Jahre in die Vergangenheit gereist sind: die Vase des Xuande.
In der Realität sieht sie viel beeindruckender aus als auf dem Holo-Video, das Onkel uns gezeigt hat. Der Detailreichtum des Drachen ist erstaunlich, man kann jede einzelne Schuppe erkennen. Neben der Vase steht eine alte Holzkiste, auf beiden Seiten ist eine Miniaturdarstellung des fliegenden Drachen eingeprägt. Die Beschreibung unterhalb der beiden Ausstellungsstücke lautet:
»M ing-Vase aus der Regierungszeit von Kaiser Xuande. Sie wurde in dieser Kiste 1431 nach Edirne gebracht, der damaligen Hauptstadt des Osmanischen Reichs, und Sultan Murad II als Geschenk überreicht.«
Wir haben später noch genug Zeit, um sie zu bewundern, gibt mir Abbie stumm zu verstehen.
Sie hat recht.
Ich zittere am ganzen Körper. Eine weitere missglückte Mission kann ich mir nicht leisten.
Ich lasse meine Hand in die Tasche gleiten und drücke auf die Fernbedienung. Die Lichter um mich her flackern kurz auf, ehe sie verlöschen. Ich stelle auf Nachtsicht um, während sich das allgemeine Stimmengewirr in ein dumpfes Brummen verwandelt, ehe in verschiedenen Sprachen geflucht und durcheinandergerufen wird und die Leute beginnen, in alle Richtungen davonzulaufen. Das Chaos kommt uns zugute.
Doch aus dem Augenwinkel heraus sehe ich etwas, das mir weniger gefällt.
Der Junge von der Rolltreppe hat ein neues Spiel entdeckt. Es nennt sich Ich klettere auf das Geländer und versuche, von dort aus den hübschen Drachen zu erreichen, der wie zwei Vögel aussieht.
Seine Eltern können ihn nicht sehen, weil sie in Richtung Rolltreppe blicken.
In Gedanken sehe ich den Jungen bereits fallen, etwa zwölf Meter tief bis zum Erdgeschoss.
Der Junge steht jetzt auf dem Geländer und streckt einen Arm nach dem Drachen aus. Sein linkes Bein beginnt zu zittern. Er ist drauf und dran, das Gleichgewicht zu verlieren!
Der Junge oder der Catch? Ich habe nur den Bruchteil einer Sekunde, um mich zu entscheiden.
In diesem Augenblick steht mir blitzartig meine eigene Zukunft vor Augen. Wenn ich erfolgreich bin und alles tue, was von mir verlangt wird, dann werde ich in den nächsten Jahren eine ganze Reihe unschuldiger Kinder entführen und ihnen beibringen, wie man stiehlt, um Onkels reiche, gierige Kunden zufriedenzustellen.
Ich renne auf das Geländer zu, stoße mit Menschen zusammen, die vor Schreck aufschreien und im Dunkeln die Flucht ergreifen. Wo ist er? Da! Ich strecke meine Arme aus und bekomme die Hose des Jungen zu fassen.
Ich reiße ihn zurück, ehe wir gemeinsam auf dem Fußboden landen.
Abbies zornige Stimme meldet sich bei mir: Was
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