Die Time Catcher
macht sich auf die Suche nach Nassim. Doch selbst nachdem sie verschwunden ist, spüre ich die Spannung, die in der Luft liegt.
14. Oktober 1871, 11:17 Uhr
Bridgeport, Connecticut
Operation Tortenboden
I ch lande auf einem Dach. Falls sich hier jemand einen Scherz erlaubt, kann ich dazu nur sagen, dass ich ihn überhaupt nicht komisch finde. Ich weiß, die Ankunft eines Zeitdiebs bei einer Mission wird so geplant, dass er kein Aufsehen erregt, aber ein Dach ohne Feuerleiter ist ein bisschen sehr abgeschieden.
Trotzdem ist es ein befreiendes Gefühl, weit vom Hauptquartier und der erstickenden Atmosphäre in Onkels Büro entfernt zu sein. Aber jetzt muss ich erst mal von diesem verflixten Dach runterkommen.
Sobald die Zeitstarre nachlässt, schiebe ich mich bäuchlings rückwärts, bis meine Beine über der Dachkante baumeln. Direkt neben mir befindet sich das Fratzengesicht eines Wasserspeiers. Nach seinem Gesichtsausdruck zu urteilen, wünscht er mir nichts Gutes. Doch ein Rückzieher kommt nicht infrage. Ich schiebe mich ganz über die Kante und lasse mich fallen.
Beim Landen rolle ich mich ab, was sich als gute Idee erweist, denn als ich mich schließlich aufsetze, empfinde ich fast keinen Schmerz. Das Erste, was ich bemerke, sind die hübschen und solide aussehenden Holzhäuser. Sie säumen eine Straße, die kaum mehr ist als ein Schlammweg. Man sollte ja glauben, dass Fußgänger solche Pfade meiden, doch in Bridgeport sind heute jede Menge Leute unterwegs: Männer, die elegante Jacketts und Melonen tragen, Frauen in langen Rüschenkleidern sowie kleine Jungen und Mädchen, die kaum anders angezogen sind als die Erwachsenen.
Ich erblicke Abbie vor der Fassade eines Gebäudes unter einem Schild mit der Aufschrift MALLEK & SONS , SCHMIEDEWERKSTATT .
»G uten Morgen, Monsieur Caleb. Immer schön, Sie zu sehen, was ich von Ihrer Kleidung allerdings nicht behaupten kann.«
Sie dehnt die Worte so sehr, dass es klingt, als spreche sie mit einem schwachen ausländischen Akzent. Abbie scheint guter Laune zu sein, was mich freut. Ich mag es nicht, wenn unser Verhältnis angespannt ist.
Dennoch weise ich jede Verantwortung für meine Kleidung – ein lehmbraunes, einreihiges Jackett mit Plisseefalten, ein gestärktes Hemd sowie eine dunkelgrüne Hose – weit von mir. Schließlich habe ich, abgesehen von Socken und Unterwäsche, nicht den geringsten Einfluss auf meine Missionsgarderobe, und Abbie weiß das. Außerdem sollte sie sich nicht beklagen – mein Outfit ärgert mich mehr als sie. Das einzig akzeptable Accessoire ist die Melone auf meinem Kopf.
Sie dagegen scheint mit ihrer Garderobe äußerst zufrieden zu sein. Ihr lilafarbenes Kleid ist hinten gepolstert und vorne mit einer großen roten Schleife verziert. Ihr langes kastanienbraunes Haar wird teils von einer Haube verborgen, deren rosa Band sich unter ihrem Kinn spannt. In der Hand hält sie einen kleinen cremefarbenen Schirm, der demjenigen gleicht, den sie in London hat mitgehen lassen. Ich muss mich an die Kandare nehmen, dass ich sie nicht unausgesetzt anstarre. Sie sieht wirklich … bezaubernd aus.
»E in schöner Tag für einen Beutezug«, sage ich, um über meine Befangenheit hinwegzutäuschen.
Sie lächelt zurückhaltend und beginnt, den schlammigen Weg entlangzuspazieren. Ich geselle mich an ihre Seite. Für eine Weile schlendern wir schweigend nebeneinanderher, passieren eine Poststation und einen Pferdestall. Ein kleines Mädchen in einem hellgelben Kleid, das an einem Lolli lutscht, läuft barfuß an uns vorbei. Ich brauche Abbie nicht zu fragen, ob wir in die richtige Richtung gehen, denn ihr Orientierungssinn ist untrüglich.
»U nd?«, fragt Abbie.
»U nd was?«
»J etzt sag schon, Cale! Ich will alles wissen. Wie hast du es geschafft, Mario die Xuande-Vase wegzuschnappen?«
Ich räuspere mich, um Zeit zu gewinnen. Ganz ruhig, ermahne ich mich. Kein Grund, sich aufzuregen. Abbie hat ein Recht darauf, es zu erfahren. Sie ist schließlich meine Partnerin.
»W arum willst du das wissen?«, blaffe ich sie an. Hat ja wunderbar geklappt mit dem Ruhigbleiben.
Abbie bleibt stehen und dreht sich zu mir um. »W as ist denn das für eine Frage? Wir sind Partner … und Freunde. Natürlich will ich es wissen … weil ich mir Gedanken mache.«
Ich kann ihr nicht ins Gesicht sehen, also starre ich auf die dreckige Pfütze, in der ich stehe.
»W as stört dich denn daran?«, fragt sie.
In der Pfütze spiegelt sich ein Teil des Himmels,
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