Die Titanic und Herr Berg
quietschen. Ich habe mich nie gefragt, ob ich das einfachere Leben hätte auf der anderen Seite des Schreibtisches, als Sozialgeldbezieher, wenn ich einem mürrischen Mann gegenüber sitze, den es nicht interessiert, warum ich nicht arbeite. Ich war mal 34 und damals auch schon in diesem Bau. Ursel war ganz frisch, witzig und gar nicht genervt von mir. Sie war jahrelang nicht genervt von mir, nahm mich leicht. So schlecht war das nicht, da wollte jemand meine Hand halten.
Ja, klasse, ich muss als erstes Jürgen treffen, der will auch meine Hand halten.
«Na, da hat doch jemand ein Jahr mehr drauf, oder?»
Ich nicke und halte still, wie immer. Heiraten? Nicken und stillhalten. Scheiden lassen? Na, gehört ja zum Heiraten dazu. Nein, Vater, du hast mich nie geschlagen. Nicken und stillhalten. Ich kann stillhalten, du bewegst mich ja, schüttelst mich nicht wach, sondern leer.
«Ich singe jetzt nicht, keine Angst.» Jürgen packt mich an der Schulter.
«Danke!», sage ich. Wir lachen.
«43 oder? Ist doch so!»
Jürgen hat wie immer Recht. Er kann den Kalender im Raucherzimmer lesen.
«Mich holst du trotzdem nicht ein.» Mit diesen Worten lässt er mich wieder los. Ich will mich duschen, wie nach jeder Vergewaltigung. Jürgen geht in sein Zimmer und ich stehe auf der Treppe, als hätte ich die Wahl, ob es mit mir aufwärts oder abwärts geht. Zum Zimmer 274 geht es aufwärts und vom Alter auch, aber die gefühlte Richtung ist abwärts. Nächstes Jahr werde ich 44 und kann nicht mal die Zahl umdrehen und denken, dass ich mal 44 war.
Im Zimmer stehen Blumen auf meinem Tisch. Und tatsächlich ein Yes-Törtchen. Yes! Frau Kobow freut sich, als hätte sie selbst ihren Ehrentag oder ihr Beagle oder der Papst. Wieder Pfötchen geben und dann – richtig persönlich – wünscht mir Frau Kobow eine liebe Frau. Na das wars, jetzt kann ich den ganzen Tag mit einer Fresse wie ’ne Flunschmuffe durchackern. Nächster bitte. Was renovieren? Ofenheizung? Aber Sie haben doch ’ne liebe Frau. Man kann nicht alles haben, ich habe nur alles satt. Wenn ichs schaffen könnte, würde ich auf alles scheißen, aber die Welt ist zu groß. Ich scheiß erst mal auf ’ne liebe Frau. Da schaut sie dumm aus dem Haufen. Nächste bitte, nächste liebe Frau.
In der Mittagspause muss ich anstoßen. Alle reden über ihr Alter und dann über mein Alter. Da stehen wir, die, die wir verpasst haben, einen anderen Beruf zu ergreifen. Ich war zu passiv zum Ergreifen, da muss man ja festhalten. Prost! Auf mich! Jürgen tut so, als wolle er das Sektglas über mir auskippen. Hoch soll ich leben, damit ich tief falle.
Und nach dem Feierabend geht Rädchen nach Hause, ein Tag weniger, ein Jahr mehr und Rädchens Zähne sind stumpf. Im Auto rauche ich wieder und bleibe im Feierabendverkehr klemmen. Ich kann an der Ampel in andere Autos sehen, in denen andere Menschen sitzen, die etwas bedeuten könnten, denen ich schon begegnet bin oder nicht, es gibt ja so viele. Zu Hause sieht es aus, wie es morgens aussah. Der Anrufbeantworter blinkt und Anton wünscht mir das, was ich mir wünsche, diplomatisch, aber zwecklos, wenn ich das wüsste. Zieh nach Berlin zurück, Anton.
Dann noch Tanja, die nur so anruft, weil sie nichts von meinem Geburtstag weiß. Vielleicht ist sie ja eine liebe Frau, sie Loch, ich Stöpsel – passt. Ich muss nett zu ihr sein, wenn ich sie verlasse. Bitte verlassen Sie diese Frau, wie Sie sie vorgefunden haben. Sie war intakt, körperlich auf jeden Fall.
In einer Stunde kommen meine zwei Scheidungskinder und wir gehen was essen. Ich räume auf, weil ich ein gutes Vorbild sein will. Ergreift einen Beruf, bevor er wegrennt, und räumt immer schön auf. Ich stapel die Zeitungen zu einem Haufen Realsatire. Ich leere den Ascher und schließe auch mal den Kleiderschrank. Dann klingelt es schon und es ist nicht an der Tür. Wie ich das so schnell wieder einordnen konnte, mit 43. Es ist das Telefon und Sebastian sagt ab. Vorher wünscht er mir Alles Gute. Und wenn das, was für mich gut ist, für andere schlecht ist, wie siehts dann aus, Sohnemann im Philosophiekurs? Er kommt jedenfalls nicht. Er sagt nicht mal warum. Durchs Telefon kann ich ihn nicht schütteln, also sage ich, dass es schade ist. Schade, er hätte mir ja mal offiziell von seiner Freundin Nadine erzählen können. Dann kommt auch schon Linda und grüßt mich von Sylvia, die mir ein Buch über Griechenland schenkt. Warum auch immer. Da war ich doch noch nie. Linda schenkt
Weitere Kostenlose Bücher