Die Tochter der Dirne
noch nie zuvor eine Frau begehrt hatte.
Das Gefühl der Nähe verging so schnell wie der falsche Vorfrühling. Als sie Nottingham erreichten, wehte der Schnee mit ihnen über die Zugbrücke ins Schloss hinein.
Solay bekam Justin kaum zu Gesicht.
„Vermutlich läuft er im Schnee herum, um ihm beim Fallen zuzusehen“, murmelte sie und spähte aus dem Fenster. Das Schloss auf dem Felsen, von dem aus man die Stadt überblicken konnte, bekam die ganze Macht des Sturms zu spüren. Der Wind ließ die Läden klappern und pfiff um die Schornsteine, während unermüdlich frischer Schnee fiel.
Allein in dem Raum, den sie mit Agnes teilte, rückte Solay näher ans Feuer, öffnete das Stundenbuch ihrer Mutter und starrte die Seiten an.
Die Sternenkarte lag vor ihren Augen und schien sie zu verspotten. Oh, sie kannte die Namen aller fünf Planeten, die zwölf Sternzeichen, die zwölf Häuser, aber wie sollte sie dieser unverständlichen Liste Bedeutung verleihen?
Sie breitete das Papier auf einem Tisch aus und malte ein Quadrat in die Mitte, das die Waage darstellte, Agnes’ Sonnenzeichen. Dann fügte sie auf jeder Seite leere Dreiecke hinzu, ohne zu wissen, womit sie sie füllen sollte.
Nacheinander versuchte sie zu erkennen, welcher Planet in welches Haus gehen würde, ohne sicher sein zu können, dass sie recht hatte. Im flackernden Feuerschein starrte sie blinzelnd auf die Karte, als könnte sie so Bedeutung hineinzwingen.
Wenn sie die Zeichen richtig las, dann wartete im siebenten Haus Veränderung. Bedeutete das eine Heirat, ein Gerichtsverfahren oder vielleicht einen Krieg?
Ihre Erfahrung mit der Karte des Königs hatte sie beunruhigt. Wenn man sie richtig zu lesen verstand, konnten die Sterne tatsächlich die Wahrheit enthüllen. Als sie auf das widerspenstige Quadrat in der Mitte von Agnes’ Karte blickte, wünschte sie nichts sehnlicher als die Weisheit, diese Wahrheit zu entdecken, und den Mut, sie auszusprechen.
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte zu viel auf Justin gehört. Sie konnte irgendeine Geschichte erfinden, und Agnes würde sie niemals in Zweifel ziehen.
„Ich dachte, Ihr hättet das Studium der Sterne aufgegeben.“ Justins Stimme schien direkt aus ihren Gedanken an ihre Ohren zu dringen.
Er stand in der Tür, die dichten Brauen verbargen seine Augen. Sie schloss das Buch, doch der Beweis blieb unter seinem finsteren Blick liegen. „Bitte sagt es niemandem.“
Er schüttelte den Kopf. „Ihr vertraut mir ständig Geheimnisse an.“ Doch es stand nicht länger infrage, dass er sie bewahren würde. Er kam näher und strich über den Samteinband des Buches. „Wem wollt Ihr jetzt schmeicheln?“
„Ich versuche, einer Freundin zu helfen.“
Er setzte sich neben sie auf die Bank. In seiner Nähe ging ihr Atem schneller.
„Ihr sprecht, als glaubtet Ihr wirklich an das Deuten der Sterne. Tut Ihr das?“
Sie legte das Buch auf ihren Schoß und ärgerte sich über ihren verräterischen Körper. Noch immer hielt er ihren Blick in die Sterne für eine List. Nun, einst war es so gewesen, und ihre schwache Hoffnung, dass sie tatsächlich die Sterne enträtseln könnte, war zu frisch, um sie mit jemandem zu teilen. „Der König hat mir verboten, in den Sternen zu lesen.“
Er runzelte die Stirn. „Ich habe nicht gefragt, was der König denkt. Ich habe gefragt, was Ihr glaubt. Denkt selbst, anstatt zu wiederholen, was die anderen Eurer Meinung nach hören wollen.“
Anders als die meisten Männer gab er sich nicht mit der glatten Oberfläche zufrieden, sondern drängte sie, ihre eigene Meinung zu äußern, selbst wenn – nein, besonders wenn sie seiner widersprach oder sogar der des Königs. Vielleicht wollte er ihr eine Falle stellen. Wenn er dem König sagte, dass sie wieder in den Sternen gelesen hatte, dann würde es keine Heirat geben und keine Zuwendung. Das würde Justins Absichten entsprechen.
Sie tippte mit einem Finger an ihre Lippen und versuchte nachzudenken.
Er zog ihren Arm weg und umfasste dann ihre beiden Hände. „Solay, ich habe eine Frage gestellt. Was denkt Ihr über die Astrologie?“
Die Wärme seiner Berührung breitete sich von seinen Händen in ihren ganzen Körper aus. Er wollte ihr wahres Wesen enthüllen, über das sie selbst nicht einmal nachzudenken wagte. „Was wollt Ihr, das ich denke?“
„Was immer Ihr mögt, solange es Eure eigene Meinung ist.“ Er hielt sie mit den Händen so fest wie mit seinem Blick. „Sagt mir einfach etwas Wahres.“
Gefangen
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