Die Tochter der Dirne
ich einen anderen Mann und nicht Justin heirate.“
Agnes nickte. „Keine Sorge. Der König wird einen anderen für Euch finden. Darum werde ich mich kümmern.“
Einen anderen. Einen, der sie nicht hasste. Einen, bei dem sie nicht schwach wurde vor Verlangen.
Sie dankte Agnes, und als sie einander umarmten, wartete sie vergeblich auf ein Gefühl der Erleichterung. Stattdessen erinnerte sie sich an eine Zeile, die sie in den Aufzeichnungen des alten Astrologen gesehen hatte.
Die Sterne sprechen in Rätseln, die wir so interpretieren, wie wir es wünschen, und deren wahre Bedeutung wir nicht erken nen, bis die Zeit vorüber ist.
Bis es viel zu spät war.
In der folgenden Woche kehrten der König und der Duke zurück. Hibernia trat nach der Hauptmahlzeit zu ihr und bat sie, ein Stück mit ihm zu gehen. Justins Stirnrunzeln und Agnes’ Lächeln folgten ihnen hinaus in den Korridor.
Solay wartete, bis er sprach. Schlank und dunkelhaarig, bildete der Duke den perfekten Gegensatz zu dem blonden, hellhäutigen König. Unter der wohlgeformten Nase saß ein kleiner, heiterer Mund. Die stets leicht erhobenen Brauen wölbten sich über lebhaften hellbraunen Augen.
Sie sah in ihm weder eine Bedrohung, wie Justin es tat, noch ein Objekt der Leidenschaft, wie Agnes. Er war einfach nur ein Mann.
„Agnes sagte mir, Ihr seid ihr eine gute Freundin“, begann er.
„Und sie ist es für mich, Euer Gnaden.“
„Sie sagte mir, Ihr wollt einen anderen Gemahl.“
Sie hoffte, Agnes hatte es nicht so deutlich formuliert. „Die Wünsche des Königs sind die meinen. Ich hoffe einfach, dass mein Gemahl ihm dieselbe Loyalität entgegenbringt, wie Ihr und ich es tun.“
„Ihr sprecht von Loyalität, und doch habt Ihr Euch seinem direkten Befehl widersetzt, nicht in den Sternen zu lesen.“
Das Blut schien ihr in den Adern zu gefrieren. Im Bett gab es keine Geheimnisse. Nun, zum Leugnen war es zu spät. „Ich habe nur ihre gedeutet, nicht die des Königs.“
„Ja, aber indem Ihr Agnes’ Sterne deutet, deutet Ihr auch meine, und indem Ihr meine deutet, deutet Ihr mehr, als Ihr ahnt, die des Königs.“
„Ich hegte keine bösen Absichten.“ Für solchen Ungehorsam würde der König sie vielleicht vom Hof verbannen – oder Schlimmeres. „Bitte …“
Lächelnd hob Hibernia eine Hand. „Keine Sorge. Ich kann Geheimnisse bewahren, die Agnes nicht für sich behalten kann. Ihr gabt ihr den Mut, mich zu erhören.“
Sie murmelte einen Dank und wurde wieder in dem bestätigt, was sie schon wusste. Nichts war mächtiger als die Worte, die eine Frau in der Dunkelheit flüsterte.
„Wenn Lamont Euch nicht will, wen soll der König Euch dann aussuchen?“
Erleichterung rang mit dem Gefühl, etwas verloren zu haben. Sie versuchte, sich den Earl of Redmon vorzustellen, doch stattdessen sah sie Justin vor sich. Gewiss würde sie einen anderen Mann wollen, wenn die Verlobung erst gelöst war.„Die Wahl des Königs wird auch meine sein.“
Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Natürlich. Wir würden eine solch treue Freundin nicht an einen Feind binden. Und Ihr müsst Euch nicht bemühen, weitere Informationen aus Lord Justin herauszulocken. Wir kümmern uns darum.“
Der Gedanke bedeutete ihr keinen Trost.
An diesem Abend ging Solay zum ersten Mal seit Tagen zu Justin. Um einen Vorwand zu haben, nahm sie das Mühlebrett mit.
Nur noch kaum mehr als zwei Wochen bis Ostern. Nachdem man ihr versichert hatte, dass der König ihr einen anderen Ehemann suchen würde, musste sie sich nicht mehr um Justins Wohlwollen bemühen. Außerdem gab es keinen Zweifel daran, dass Justin sie zurückweisen würde.
Oder doch?
Sie musste sicher wissen, was er dachte, deswegen suchte sie ihn auf. Und nur deswegen.
„Bald ist Ostern“, sagte sie, nachdem sie das dritte Mal hintereinander verloren hatte. Sie würde froh sein, wenn sie nicht mehr an ihn gebunden war, aber so über das Brett gebeugt, fühlte sie die Wärme des Verlangens und noch etwas anderes, das sie nicht benennen wollte.
„Und dieses lange Versteckspiel wird vorüber sein“,erwiderte er.
Sie presste enttäuscht die Lippen aufeinander. In den letzten Wochen hatte sie weniger vor ihm verheimlicht. Vielleicht glaubte er nicht, dass sie ihn liebte, aber hatte er nicht bemerkt, dass sie sich verändert hatte?
Sie hob den Kopf. „Ich bin nicht mehr dieselbe wie am Dreikönigstag. Findet Ihr nicht?“
„Was ich finde, ist nicht wichtig. Wichtig ist, was Ihr selbst von Euch
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