Die Tochter Der Goldzeit
gehangen hatten. Und vorgestern und all die Tage und Wochen davor.
Vom Frühsommer bis zum Herbst war Grittana mindestens einmal in der Woche zum alten Gemäuer bei der Eibe geritten. Seit die Flotte des Eisernen aufgetaucht war, nur noch zu jedem Vollmond. Hier, an der Zeitfuge, schien ihr die Wahrscheinlichkeit am höchsten, einem der Anderen zu begegnen. Nur, wenn es gar nicht anders ging, schufen sie auch an gewöhnlichen Orten Schwellen, über die sie aus der Anderen Welt in die Welt der Menschen treten konnten. Und auch nur dann, wenn jemand sie rief, dem sie vertrauten.
Zur Wrackinsel zu segeln, wo man sie auch hätte treffen können, war zu gefährlich in diesen Tagen der Todesnähe. Am gesamten Ost-, Süd- und Nordufer patrouillierten seit zwei Monden Kundschafter des Eisernen.
Die Meisterin trat dicht an das alte Gemäuer heran. In den Mauerritzen lagen Karamellbonbons, etwa zwanzig Stück. In einer Nische stand eine Tonschüssel mit Pralinen. Ameisen und Käfer tummelten sich darin. Keine einzige Praline fehlte.
Die Anderen waren nicht hier gewesen.
Grittana wartete zwei Stunden. Der Schnee fiel dichter. Sie hatte ihn vorausgesagt. Es war der erste Schnee dieses Winters, kalt war es schon lange. Wegen des angekündigten Schneefalls hatte Tondobar den Angriff auf den heutigen Tag festgelegt. Um die Mittagszeit wollten die Jäger, Waldläufer und Katafrakte die Truppen des Eisernen angreifen, sobald die fremden Krieger den Wasserfall erreicht hatten.
Als nach drei Stunden immer noch keiner der Anderen erschien, band Grittana ihren Bock los, zog ihn aus dem Gemäuer und dem Farn und stieg in den Sattel. Friedjan auf seinem weißen Mammutwidder, zwei Jäger auf gescheckten Böcken und drei Waldläuferinnen ohne Reittiere warteten zwischen den Bäumen. »Und?«, klang es dumpf aus Friedjans geschlossenem Helm.
»Nichts.«
Sie ritten durch den Wald zum Flusstal hinüber. Bis auf vierhundert Meter näherten sie sich dem Haupttor von Altbergen und ließen es dann hinter sich. Die Bergstadt war menschenleer. Ihre Bewohner hatten sie verlassen, gleich nachdem der gefiederte Bote Lundis' Nachricht gebracht hatte. Die Turbinen und Pumpen waren abgeschaltet, die Luftschächte verschlossen, das Haupttor und die drei Behelfstore mit Geröll zugeschüttet und durch zusätzliches Geäst getarnt. Die Berichte aus Tikanum hatten jeden in Altbergen von der Täuschung befreit, in der Bergstadt wäre die Sozietät sicher. Niemand und nichts war sicher vor dem Zugriff des Eisernen.
Er war nicht persönlich gekommen. Doch Grittana, Tondobar und der Rat von Altbergen zweifelten nicht daran, dass die, die er geschickt hatte, nicht minder gefährlich waren als er selbst.
Ein grauer Ritter führte die feindlichen Kriegsscharen an. Kein Späher hatte ihn bisher mit geöffnetem Visier gesehen. Er hieß Catavar und ließ sich mit »Kriegsmeister« ansprechen. Beides wusste Grittana aus seinem Geist. Waldläufer hatten sie so nahe an sein Zelt geführt, dass sie für kurze Zeit in seine Gedanken eindringen konnte. Er stammte aus Jusarika und wollte um jeden Preis den Weg zur Lichterburg herausfinden und das Erbe der Goldzeit an sich bringen.
Verfluchte Lichterburg! Zorn stieg in der Meisterin auf. Verfluchtes Erbe der Goldzeit! Der Zorn war ihr ständiger Begleiter, seit Catavars Kriegsrotten unten an der Flussmündung gelandet waren.
Unter dem grauen Kriegsmeister befehligten einige Jusarikaner die Kämpfer aus dem Südland. Dazu ein grobschlächtiger Ritter aus Albridan, zwei Häuptlinge von der Küste Apenyas und ein ranghoher Krieger aus Dalusia.
Fast den ganzen Herbst über hatten die Truppen die Ruinenstadt an der Flussmündung und den Wald in ihrer Umgebung durchsucht. Daraus ließ sich nur eine einzige Schlussfolgerung ziehen: Jorinal, die Tochter Linderaus, hatte den Kriegern des Eisernen nicht die ganze Wahrheit gesagt. Nur die Beschreibung des Wasserweges bis zur Flussmündung hatten sie ihr entreißen können. Grittana mochte nicht daran denken, auf welche Weise das geschehen war. Den Fußweg ins Flusstal hinein und die Berghänge hinauf bis zum Tor unter dem Gipfel hatte Linderaus Tochter verschwiegen. Stattdessen hatte sie den Grauen und seine Heerführer in die Ruinenstadt geschickt.
Tapfere Jorinal!
Hatte sie sich selbst töten können? Oder hatten die Anderen ihr beigestanden? Wie auch immer - während Grittana und Tondobar die Fremden in der Ruinenstadt dabei beobachteten, wie sie jeden Stein umdrehten,
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