Die Tochter Der Goldzeit
schmutzige Licht schimmerte im Weiß ihrer Augen. Tiban und der Jäger verharrten reglos. Am Rand der Lichtung winkte Honnis. Irgendetwas hatte er entdeckt.
»Riecht ihr das?«, flüsterte die Meisterin. »Gehen wir .«
Bosco sah, wie Tiban und der Jäger die Nasenflügel aufblähten. Auch er sog prüfend die Luft ein: Moder, rostiges Eisen und verbranntes Fleisch. Wo sind die drei Jäger der Vorhut? Siedend heiß schießt es ihm durch den Kopf. Er reißt das Glas an die Augen: Etwas sitzt am Brunnenrand - schwarz und haarig und mit langen Gliedern. Groß ist es und massig wie ein Rinkuda; es dampft und schmatzt und pulsiert und saugt schnarchend die Luft ein.
Kalter Stein füllt Boscos Brust aus, er wagt nicht zu atmen. An den Säulen neben dem Brunnen hängen menschliche Gestalten, nackt, verstümmelt und mit geöffneten Leibern. Graukolks hocken auf ihren Schultern und Schädeln.
Tiban und der Jäger springen auf, huschen in den Wald.
»Weg hier!«, zischt die Meisterin und rennt davon.
Das schmutzige Licht wird heller, ein Schatten fällt auf den Brunnen. Bosco kann nicht fliehen, muss hinschauen, muss sehen, wie das schwarze, haarige Wesen sich vom Brunnenrand fallen lässt und ein zweites Schwarzwesen sich aus der Öffnung stemmt. Ein Mann mit einer Fackel taucht aus der Nebelwand auf, erscheint zwischen den Steinbogen und wilden Feigenbäumen, tritt auf die Lichtung. Groß ist er, kräftig gebaut, sein Haar grau und lang, und ein Mantel aus ungefärbter Wolle hüllt ihn ein. Der Schein seiner Fackel fällt auf die Säulen, auf die verstümmelten Leichen daran, auf die Graukolks, die sie fressen, und als er die Mitte des Platzes erreicht, auch auf den Brunnen und die beiden ungeheuerlichen Wesen dort. Fürchtet er sich denn gar nicht?
Das zweite schwarze, haarige Wesen kippt nun vom Brunnen, und die Klauen des dritten erscheinen am Rand der Fassung. Fackelschein zittert auf zuckenden Leibern vor dem Brunnen, Tiere kriechen über Sterbende, Echsen, Schlangen und große, graupelzige Nager: Taratzen. Zwischen ihnen hocken die beiden haarigen, schwarzen Ungeheuer, verschlingen Glieder, schlürfen Blut, stieren aus rot leuchtenden Augen herüber zu Bosco. Der Mann mit der Fackel aber dreht sich jetzt um und schreitet zurück zu den Säulenruinen und den wilden Feigen - oder schwebt er? Und was glitzert da an seiner Linken? Bosco späht durch sein Binocular, sieht einen Goldring, sieht einen goldenen Stern und eine Mondsichel glänzen ...
»Weg hier!« Die Meisterin kommt zurück, packt ihn am Arm. »Weg! Weg!« Sie reißt ihn hinter sich her. Am Rand des Brunnenplatzes kauert noch Honnis. Bosco sieht sein spitzes Gesicht - ein Gesicht wie aus Kalkstein gemeißelt. Die Meisterin packt auch den jungen Waldläufer, zerrt Bosco und ihn auf den Pfad. Sie ducken sich nicht mehr, sie achten nicht auf ihre Schritte, achten nicht auf die Zweige, die sie zertreten; sie rennen einfach, rennen und rennen.
Die Ruinen bleiben zurück, sie holen Tiban und die Jäger ein, der Nebel lichtet sich, und dann wieder Mondschein und Sternenlicht über den Wipfeln. In einer Wurzelgrube lassen sie sich fallen, verschnaufen, drängen sich aneinander. Irgendwann hob Bosco den Kopf und rief die Namen der Gefährten, einen nach dem anderen.
Vier antworteten nicht, vier fehlten - die Jäger der Vorhut.
»Wer waren die schwarzen Ungeheuer?«, flüsterte Tiban.
Tarsina antwortete nicht. Bosco hörte sie schlucken.
»Die Toten an den Säulen - habt ihr sie erkannt?« Honnis keuchte. Keiner antwortete, doch Bosco ahnte, wer dort gehangen hatte: die seit Wochen verschollenen Jäger. »Und drei Jäger unserer Vorhut lagen sterbend unter den Klauen der Monster vor dem Brunnen ...«
»Der Mann mit der Fackel ...« Atemlos flüsterte Tarsina. »Das muss jener >mächtige Hexer< gewesen sein, von dem dir die Waldnomaden im Gebirge erzählt haben ... Er hat die Zeitfuge verschlossen.«
»Was sagst du da?« Bosco richtete sich auf. »Und wie?«
»Durch Gräuel, durch verstümmelte Leichen, durch seine Hexerei.«
»Und die haarigen Ungeheuer?«
Wieder keine Antwort.
»Waren das denn keine Anderen? Sprich doch, Tarsina!«
»Andere schon. Aber nicht die, die ein Mensch anrufen sollte ...« Ihre Stimme klang brüchig und dünn, wie die Stimme einer Greisin. »Schwarztrollschlinger waren das. Wenn solche Ungeheuer an einer Zeitfuge erscheinen, wird sie sich nie wieder öffnen.«
Den ganzen nächsten Tag versteckten sie sich unter der Erde. Am
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