Die Tochter der Hexe
längst nach Hause gegangen war. Mit Herz und Verstand war Jonas an diesem Abend bei allen Themen dabei, disputierte mit einer Lust, wie er sie zuletzt bei den Gesprächen mit Textor empfunden hatte.
Schließlich erhob sich Mürlin und legte väterlich den Arm um die Schultern des Jüngeren.
«Ich muss leider aufbrechen, da ich mich morgen in aller Frühe auf die Heimreise machen werde. Doch ich hätte Euch einen Vorschlag zu machen – unter dem Mantel der Verschwiegenheit zunächst, denn ich will meinem alten Freund und Schwager nicht hopplahopp den Hauslehrer wegschnappen. Kommt.»
Er zog ihn hinaus auf die dunkle Schuhhausgasse und rief nach einem Fackelträger. «Als Schulmeister der Lateinschule unterrichte ich nebenher auch die Schüler der Deutschen Schule. Doch so langsam wird mir das zu viel. Die Deutsche Schule hat immer größeren Zulauf – von den Söhnen der Handwerker und Kaufleute, die praktisches Wissen fordern, aber neuerdings auch von Mädchen. Und jünger werde ich auch nicht. Kurzum: Ich brauche eine fähige Unterstützung. Könntet Ihr Euch vorstellen, an meiner Seite als zweiter Schulmeister zu unterrichten?»
Jonas brauchte nicht lange zu überlegen, denn der Unterricht im Hause Kargerer entsprach weiß Gott nicht seinem Traum von einer Dauerstellung. «Gern. Wenn Ihr mir das zutraut?»
«Aber ja. Ich denke nicht, dass mich meine Menschenkenntnisin Eurem Fall im Stich lässt. Allerdings müsstet Ihr ein weiteres Mal einen Ortswechsel auf Euch nehmen – meine Arbeitsstätte liegt drei Tagesreisen von hier, in Ravensburg.»
Der erneute Umzug wäre das Geringste gewesen, das ihn von Mürlins Angebot abgehalten hätte. Wenn etwas seine Erwartungen trübte, dann eher schon der Gedanke, seinen Freund Conrad nach einem knappen Jahr bereits wieder zu verlassen – doch letztendlich war die Strecke von der Welfenstadt nach Ulm mit einem guten Reitpferd, wie er es in dem Wallach gefunden hatte, in zwei Tagen zu schaffen, Conrad war also nicht aus der Welt. Das schlechte Gewissen Kargerers gegenüber hielt sich in Grenzen. Er war nie anders als ein Knecht behandelt worden, und schließlich würde der Alte den ganzen Sommer über Zeit haben, sich nach einem neuen Hauslehrer umzusehen.
Einen anderen Gedanken bemühte er sich vergebens zu unterdrücken: Der letzte Hoffnungsschimmer, Marthe-Marie könne ihn doch noch eines Tages in Ulm aufsuchen wollen, würde mit seinem Umzug erlöschen. Fast unwillig gab er seinem Pferd die Sporen, als sich hügelabwärts, im Dunst des Nachmittags, die Türme der Reichsstadt Ravensburg abzeichneten.
31
Mettels grausames Ende lastete schwer auf der Stimmung unter den Spielleuten. Wie gelähmt gingen sie an den restlichen Tagen in Blaubeuren ihren täglichen Verrichtungen nach, präsentierten wie vereinbart während des Schützenfests – jeden Nachmittag und jeden Abend – ihre Darbietungen, zuletzt sogar Shakespeares «Romeo und Julia», die «Weltneuheit auf deutschen Wanderbühnen»,wie Sonntag angekündigt hatte. Von den Zuschauern bemerkte keiner ihre Trauer und Niedergeschlagenheit – zu sehr lag ihnen das Spielen im Blut. Selbst Marthe-Marie gelang es, den Schmerz über Mettels Tod zu verdrängen, solange sie auf der Bühne stand.
Mit dem neuen Stück und mit den atemberaubenden Reitkünsten auf der Schimmelstute Fortuna hatte Leonhard Sonntags Compagnie großen Erfolg, wenngleich das keine Mehreinnahmen brachte, da wohl jeder hier wusste, dass die Gaukler von der Schützengesellschaft bezahlt wurden und daher niemand bereit war, einen Pfennig zusätzlich herauszurücken. So machten sie ein eher mäßiges Geschäft, und ein Großteil ihrer Einnahmen floss in die Totenmesse und würdevolle Bestattung ihrer Gefährtin.
Ihre letzte Ruhestätte hatte Mettel auf dem kleinen Friedhof neben dem Klostergarten gefunden. Als die Truppe nach der Abschiedsvorstellung aufbrechen wollte, weigerte sich Maximus mitzukommen. Er war durch nichts zu überreden, und nachdem sie erfahren hatten, dass der gutmütige Abt ihn als Knecht in seine Dienste nehmen wolle, zogen sie schließlich ohne ihn weiter. Wie sehr musste dieser bärenstarke Mann die alte Kupplerin geliebt haben, dachte Marthe-Marie, nachdem sie ein letztes Mal an Mettels Grab gebetet hatte.
«Wir werden immer weniger.»
Fast beiläufig klang Maruschs Bemerkung, während sie jetzt das Maultier die steile Steigung hinauftrieb. Die Spitze der Klosterkirche verschwand hinter den Bäumen. Marthe-Marie
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