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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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schon so mancher Arm oder Fußknöchel durch handwerkliche Nachlässigkeit zerschmettert worden. Einige Frauen, die schon sehr lange hier einsaßen, waren an einem Ring an der Wand oder am Boden festgekettet. Doch da wir noch so jung waren, durften wir uns zumindest frei in der Zelle bewegen. Kurz darauf gestattete der Sheriff den Angehörigen der Gefangenen, einem nach dem anderen, den Flur zu betreten, um uns Lebensmittel oder Kleidung durch die Gitterstäbe zu reichen. Die jeweilige Verweildauer auf dem Flur hing davon ab, wie viele Münzen oder Naturalien man dem Sheriff zustecken konnte. Da die meisten Familien nicht über Bargeld verfügten, gewährte man ihnen nur wenige Momente, um Trost zu spenden, ein Gebet zu sprechen oder sich zu verabschieden. Die Zellentüren selbst wurden nur selten für Besucher geöffnet. Ausnahmen gab es nur für Geistliche, die wenigen Ärzte, die die Gefangenen aus Mildtätigkeit behandelten, oder um die Leiche zu entfernen, wenn jemand während der Nacht gestorben war. Am späten Nachmittag sahen Tom und ich, wie die gebückte Gestalt unseres Vaters vor unserer Zellentür erschien und den Flur verdunkelte. Die Deckenhöhe des einen Meter ins Erdreich getriebenen, halben Kellergeschosses betrug nämlich nur knapp einen Meter achtzig. Darauf hatte man ein Steinfundament gemauert, auf dem das restliche Gebäude ruhte.
    Vater umfasste die Gitterstäbe und rief nach uns. Als er sah, dass wir in Eisen lagen, senkte er den Kopf. »Gütiger Gott …«, seufzte er. Doch er durfte sich nicht zu lange bei uns aufhalten, da er auch Richard und Mutter etwas zu essen bringen musste, bevor man ihn wieder hinausjagte. Er gab mir einen kleinen Laib Brot, einen ledernen Wasserschlauch, ein Umschlagtuch für mich und einen Mantel für Tom. »Sarah, hör mir gut zu«, zischte er. »Trink zuerst, was in dem Wasserschlauch ist, und rühr das Wasser im Fass nur an, wenn es gar nicht anders geht. Dieses Brot muss eine Weile reichen. Wenn du langsam kaust, wird es dir wie mehr erscheinen. Ich versuche, beim nächsten Mal Fleisch mitzubringen. Doch das kann noch eine Weile dauern. Also tu, was ich dir sage.« Er griff durch die Gitterstäbe, zog mich an sich und fügte hinzu: »Teil dieses Brot mit niemandem außer mit Tom. Viele Frauen hier sind am Verhungern und werden dich anbetteln. Aber wenn du mir nicht gehorchst, wirst du krank werden und sterben. Hast du verstanden, Sarah?«
    Ich nickte und steckte das Brot unter meine Schürze. »Tom, erinnerst du dich, was ich dir damals erklärt habe?«, wandte er sich daraufhin an meinen Bruder. »An dem Tag, als du auf dem Feld den Lederriemen weggeworfen hast? Weißt du, was ich meine?« Als Tom nickte, meinte Vater: »Es liegt jetzt ganz an dir. Ich komme wieder, sobald ich kann.«
    Er schickte sich zum Gehen an. Doch da fiel mir meine Schwester ein. »Wo ist Hannah?«, rief ich ihm nach. Er drehte sich noch einmal um. »Bei der Familie von Reverend Dane«, erwiderte er. »Sie werden sich gut um sie kümmern.« Die Frau des Reverend war sehr gütig, aber auch streng, und ich fragte mich, wie sie wohl mit Hannah zurechtkommen würde, die erst drei Jahre alt, verwildert und schmutzig war und ununterbrochen Aufmerksamkeit forderte. Viele Monate lang hatte ich ihr die Mutter ersetzen müssen, und nun wurde sie schon wieder aus ihrer Familie gerissen und in einen fremden Haushalt verpflanzt. Ich weinte bitterlich, weil ich so oft heftig, ungeduldig oder lieblos mit ihr umgegangen war. Vater überquerte den Flur und steckte erst Richard und dann Mutter ein paar Lebensmittel zu. Als Mutters Hände sich durch die Gitterstäbe streckten, drückte er ihre Fingerknöchel gegen seine Augen und flüsterte etwas. Kurz darauf rief der Sheriff nach ihm. Als Vater ging, dämmerte bereits der Abend. Unsere Zelle, die »gute Zelle«, zeigte nach Westen, sodass kurz das Licht der untergehenden Sonne durch die Schlitze in der Wand blitzte. Es tauchte unsere Haut in einen rötlichgelben Schein, als wäre das Stroh in Flammen aufgegangen und würde uns in unserem Gefängnis bei lebendigem Leibe verschlingen.

    Das Ungeziefer brauchte nur wenige Stunden, um sich in meinem Haar einzunisten, und als ich nachts aufwachte, brannte meine Kopfhaut wie Feuer. Ich kratzte mit den Fingernägeln und spürte ein Kribbeln auf der Haut, als die Läuse um meine Finger herumwimmelten. Eine Frau auf der anderen Seite des Raums hatte vor Schmerzen zu stöhnen angefangen. »Oh, mein Gott, mein

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