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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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Dutzende, die in der Zelle lagen, saßen oder standen, uns anstarrten und unsere Gesichter mit Blicken fixierten. Verzweifelt suchte ich die Schatten nach einer vertrauten Person ab und öffnete den Mund. »Mutter?«, rief ich heiser. Beim Klang meiner Stimme seufzten einige Frauen auf oder schüttelten die Köpfe. Eine junge Frau, die zu meinen Füßen saß, brach in Tränen aus. Aber niemand antwortete mit: »Hier bin ich.«
    Ich machte ein paar Schritte auf die rückwärtige Wand zu. »Mutter?«, wiederholte ich, wieder ohne Ergebnis. Als ich weiterging, trat ich auf eine alte Frau, die ich mit einem Lumpenbündel verwechselt hatte. Mit einem Aufschrei fuhr sie hoch und hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. Ich hielt weiter in alle Richtungen Ausschau nach meiner Mutter und schlang, zitternd vor Furcht und Kälte, die Arme um den Leib. Alle Blicke ruhten auf mir, und dennoch sprach niemand ein Wort, bis die Stille noch unerträglicher wurde als der Gestank. Ich wich zurück, bis ich wieder neben Tom stand. Da hörte ich, wie jemand meinen Namen rief. Die Stimme war so leise, als würde sie von einer Decke oder durch große Entfernung gedämpft. »Mutter?«, stieß ich erneut hervor. Da die Stimme vom Flur her zu kommen schien, stürzte ich zurück zu den Gitterstäben. Die Frauen, die sich an die niedrige Steinmauer lehnten, in die die Gitter eingelassen waren, schrien empört auf oder beschimpften mich übel, als ich über sie hinwegkletterte. Doch das war mir einerlei, denn um die Besitzerin dieser Stimme zu finden, wäre ich auch über Leichen gegangen. Ich klammerte mich an die Gitterstäbe und presste mein Gesicht fest dagegen. »Mutter, wo bist du?«, schrie ich aus Leibeskräften.
    »Hier, Sarah, hier bin ich.« Da sah ich, wie sich ein Arm aus der Zelle am anderen Ende des Flurs streckte. Die Hand war stark und winkte mir mit nach oben gereckter Handfläche zu, als wolle sie den Regen oder den Klang meiner Stimme auffangen. Das Handgelenk war kräftig und beweglich wie der Hals einer prachtvollen Stute. Und es hing eine Handschelle mit Kette daran.
    »Mutter, Mutter, Mutter, Mutter …« Gewiss wiederholte ich dieses Wort einhundert Mal, und sie antwortete mir. So ging es eine Weile hin und her, bis der Sheriff uns von oben anbrüllte: »Wenn ihr nicht sofort still seid, werdet ihr es bereuen!« Also senkten wir die Stimmen zu einem Flüstern. Im nächsten Moment hörte ich von der gegenüberliegenden Seite des Flurs Richards Stimme. Er saß mit Andrew in der näher gelegenen Männerzelle. Wir drei sprachen leise über Belanglosigkeiten: Tom sei bei mir. Bis jetzt sei uns nichts geschehen. Richard berichtete uns von den Wunden an den Handgelenken, die Andrew bei seiner Folterung vor zehn Tagen zugefügt worden waren. Allerdings verschwieg er uns, dass mein Bruder inzwischen fieberte, weil er sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Die Prozesse, die Urteilsverkündung oder unsere Zukunft erwähnten wir nicht. Als Mutter sich nach Hannah erkundigte, wusste ich darauf nichts zu erwidern, denn ich hatte seit meiner Ankunft im Versammlungshaus von Salem keinen Gedanken an meine kleine Schwester verschwendet. Bald forderten die Frauen, die an der Mauer gelehnt hatten, ihre Plätze zurück, sodass Tom und ich in die Mitte der Zelle gedrängt wurden.
    Da kam eine Frau langsam auf uns zugekrochen. Ihr Kleid war schmutzig und abgetragen und hatte Rostflecken von den Ketten, die auf ihrer Schürze ruhten. »Kommt, Kinder, setzt euch zu mir«, raunte sie. »Ihr seid in der guten Zelle, nicht in der anderen. Also sucht euch ein Plätzchen in meiner Nähe und ruht euch aus.« Ihr Gesicht war gütig, und ihre Hände sanft, als sie sich um meine widerstrebenden Finger schlossen. Als ich die anderen Frauen - ungewaschen, halb verhungert und alle, sogar die Jüngsten, in Ketten - betrachtete, fragte ich mich, was sie wohl mit »guter Zelle« gemeint haben mochte. Allerdings wusste ich nicht, dass die meisten Frauen in der anderen Zelle zum Tode verurteilt waren und dass meine Mutter sich mit fünfzehn anderen Märtyrerinnen in einem Raum drängte, der für sechs oder sieben Personen bestimmt war.
    Wir setzten uns zu der freundlichen Frau, bis der Schmied erschien, um uns in Ketten zu legen - Ketten, die mein Vater dem Sheriff würde bezahlen müssen. Der Mann war mürrisch und kurz angebunden, verstand jedoch etwas von seinem Geschäft. Der Hammer traf beim letzten Schlag genau sein Ziel, ein Glück, denn es war

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