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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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kleine Schritte auf den Tisch zu, um möglichst lange Abstand zu wahren, Zeit zu gewinnen und die Hiobsbotschaft hinauszuzögern.
    Vater starrte auf seinen Schoß. »Eure Großmutter ist gestorben«, sagte er.
    »Und was ist mit Tom, Andrew und Richard?« Meine Hände wanderten hinauf zu den Ohren, denn ich wollte die Worte aussperren.
    »Sie leben.«
    »Und jetzt muss ich fort.« Ich war wohl die Letzte im Raum, der auffiel, dass ich mich nicht nach meiner Mutter erkundigt hatte.
    »Die Quarantäne ist aufgehoben. Es ist Zeit, dass du und Hannah nach Hause kommt. Bei Dunkelwerden brechen wir auf.«
    Margaret ging mit mir in unser Zimmer, wo ich bis zur Abfahrt auf dem Bett liegen blieb. Immer wieder flüsterte sie mir ins Ohr, dass nichts uns trennen konnte. Schließlich sei sie meine Herzensschwester, jetzt und für alle Tage. Die Tante packte Essen und Kleidung für unterwegs zusammen und versprach, uns im Frühling in Andover zu besuchen. Doch auch damit konnte sie mich nicht trösten. Hannah strampelte und schrie und musste der Tante gewaltsam aus dem Armen gerissen werden. Wahrscheinlich trug Tante Mary am Abschied von Hannah noch schwerer als am Tod ihrer Mutter. Selbst als Wickelkind war Hannah stets still und zurückhaltend gewesen, als habe sie von Anfang an geahnt, dass Gequengel und Bedürftigkeit bei meiner Mutter nur auf wenig Gegenliebe stoßen würden. Inzwischen jedoch war meine Schwester bei den Toothakers verhätschelt, verwöhnt und verzärtelt worden, und dass Andrew sie mittlerweilen ebenfalls vergötterte, hatte ihn in meinem Ansehen steigen lassen und für eine Art Waffenstillstand zwischen uns beiden gesorgt. Bald sollte Hannah wieder der Obhut einer anderen Familie übergeben werden, wo man längst nicht so gütig zu ihr sein würde. Doch es war diese Trennung von der Frau, die sie nun als ihre Mutter betrachtete, die sie für den Rest ihres Lebens zu einem ängstlichen und unselbstständigen Menschen machen sollte.
    Margaret und ich warteten bis zum letzten Moment, um die Puppen zu tauschen. Sie lüpfte den scharlachroten Rock ihrer Puppe und zeigte mir, wo sie eine Nadel hineingesteckt hatte, damit ich weiternähen konnte und nicht aus der Übung kam. Vom Karren aus sah ich zu, wie Margaret immer kleiner wurde, bis sie kaum größer war als die Puppe in meiner Hand. »Deine Mutter lebt«, hatte Vater zu mir gesagt, als er mich in den Wagen hob. Ich schob den Unterkiefer vor und wandte den Blick ab, denn er sollte nicht glauben, dass ich mich über diese Nachricht freute. Ich würde in ein kaltes Haus zurückkehren, ohne zu wissen, wann ich meine Cousine wiedersehen durfte. Als ich die Puppe fest umklammerte, stach mich die Nadel in den Finger.
    Eine Nadel ist sehr klein und empfindlich. Sie zerbricht leicht und fasst nur einen zarten Faden. Doch wenn sie spitz genug ist, durchbohrt sie auch den kräftigsten Stoff. Wer eine Nadel mit einem langen Faden immer wieder durch eine Leinwandbahn sticht, besitzt schließlich ein Segel, das ein Schiff über den Ozean trägt. Auf dieselbe Weise macht sich die spitze Zunge eines Klatschmauls den hauchdünnen Faden des Gerüchts zunutze und flickt sich eine Geschichte zusammen, die wie eine Fahne im Wind flattert. Hisst man diese dann an einem Mast aus Aberglauben, kann der Sturm der Angst eine ganze Stadt mitreißen. Vielleicht hätte ich den Nadelstich als Zeichen sehen sollen. Aber ich war noch sehr jung, und als wir in Andover ankamen, hatte die Wunde schon längst zu bluten aufgehört.
    Ich blickte zum Himmel hinauf, sah aber keine Sterne, nur Wolken, die uns noch viele Wochen Schnee bringen würden, bis der Winter endlich vorüber war.

3
    April 1691 - August 1691
    D er Kampf gegen die Pocken hatte bei meiner Familie Spuren hinterlassen, die weit über die Narben auf der Haut hinausgingen. Vater hatte sich als Einziger seine Lebenskraft bewahrt, trieb sich weiter zur Arbeit an, versorgte das Vieh und verbrachte oft viele Tage auf der Jagd in den umliegenden Wäldern. Wenn er frühmorgens, die Flinte auf dem Rücken, allein über die Felder in die farblose, weiße Welt hineinstapfte, erinnerte er an einen hoch aus dem Schnee ragenden Baum. Abends kam er dann mit einem Hasen oder einem Fuchs am Gürtel zurück. Hin und wieder blieb das Jagdglück auch aus, und wir mussten mit knurrenden Mägen zu Bett gehen.
    Ich weiß nicht, was meine Mutter empfand, als Hannah und ich mit dem Karren in Andover eintrafen. Allerdings konnten ihr meine harte,

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