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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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unangenehmere Aufgaben auf mich warteten. Die Ernte auf den Feldern hatte fast achtzig Scheffel Mais eingebracht, und es gab kaum eine Mahlzeit, in der die harten kleinen Kerne - zermahlen, zerdrückt oder mit dem von Vater erlegten Wild zerkocht - nicht Bestandteil gewesen wären. Wir aßen Mais in Form von über der Glut gebratenen Kolben, als mit Holzasche vermengten eingeweichten Brei und gebacken mit Bohnen und Kürbis. Später im Frühling, wenn der Saft in den Ahornbäumen stieg, würden wir Maismehl mit Sirup und Weizenmehl zu einem Indianerpudding vermischen. Allerdings war ziemlich viel Sirup nötig, um den sandigen Geschmack der viele Monate lang eingelagerten Maiskörner zu überdecken.
    Als ich tiefer in das Maisfeld hineinkroch, stieß ich auf die Vogelscheuche, deren Kopf und Schultern über die Pflanzen hinausragten. Die seidigen Spelzen wehten im Wind, als wollten Bürger den König grüßen, der sie beschützt. Die Vogelscheuche war in Wirklichkeit eine große Backschaufel, an der ein Hickoryzweig befestigt war, um die Arme darzustellen. Bekleidet hatten wir unseren Vogelscheuchenmann mit einer abgetragenen Hose von Vater und einer Jacke, die so alt war, dass sie schon die Überfahrt aus dem alten England mitgemacht hatte. Die Jacke bestand aus verschossener roter Wolle und hatte umgeschlagene blaue Manschetten und einen geflickten Riss am Ärmel. Einmal ertappte ich Vater dabei, wie er den Vogelscheuchenmann anstarrte, als hätte er einen schon viele Jahre Totgeglaubten vor sich. Es war später Nachmittag, und die Schatten wurden länger, die Tageszeit also, die Vater am meisten schätzte. Und da er guter Stimmung zu sein schien, wagte ich, ihn zu fragen, woran er gerade dachte. »Ich erinnere mich an etwas, das ich lieber vergessen möchte. Doch die Vergangenheit eines Mannes verfolgt ihn wie sein eigener Schatten«, erwiderte er, ohne mich anzusehen.
    »Ist das ein Uniformrock?«, wollte ich wissen.
    »Ja«, antwortete er leise.
    »Wo hast du gekämpft, dass so ein Riss hineingeraten konnte?«, hakte ich nach und rückte ein Stück näher an ihn heran.
    »In Irland.« Das überraschte mich, weil ich bis jetzt gedacht hatte, er hätte nur als Soldat im alten England gedient. »Ich bin mit Cromwell gegen die Katholiken gezogen.«
    Im Versammlungshaus hatte ich genug gehört, um zu wissen, dass Katholiken Götzenanbeter waren, die Blut tranken und dem Leibhaftigen an Bosheit in nichts nachstanden. »Und hat dich ein irischer Soldat so verletzt«, fragte ich aufgeregt weiter. Ich zeigte auf seinen Arm, wo eine erhabene, zackige Narbe vom Ellenbogen bis zum Handgelenk reichte.
    Vater schüttelte den Kopf. »Nein, es war nur ein Mann, der sein Haus und seine Familie verteidigt hat«, sagte er.
    Enttäuscht von dieser so wenig abenteuerlichen Erklärung, überlegte ich stirnrunzelnd, was ich ihn sonst noch fragen könnte. Aber als ich den Kopf hob, hatte er sich bereits abgewandt und schritt ins Maisfeld hinein. Die grünen Stängel rauschten und knisterten, während sie sich erst teilten und dann hinter ihm wieder zusammenschlugen.
    Das Klappern der Muschelketten, die an den Armen der Vogelscheuche hingen, holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Mutter bezeichnete die Vogelscheuche als murmet , ein Wort, das für mich einen geheimnisvollen Klang hatte. Während eine Vogelscheuche ihre Pflicht bei hellem Tageslicht tat, weckte das gerollte »R« in murmet in mir die Vorstellung, jemand schliche sich im Schutz der Dunkelheit an die gierigen Krähen an. Das Wort stammte aus dem Süden Englands, aus Devon, Basing und Ramsey, wo die Menschen sich noch der alten Sprache bedienten. Als ich einen Lichtfunken aufblitzen sah, wandte ich mich um und entdeckte ein riesiges Spinnennetz. In dem Rad aus gesponnener Seide hatten sich Tautropfen gefangen. Sicher hatte die Spinne lange gebraucht, um so ein kunstvolles Muster zu weben. Doch so sehr ich mich auch umschaute, ich konnte die Künstlerin nicht entdecken. Langsam und anmutig rannen die Tropfen die seidenen Fäden entlang, verharrten kurz am untersten Rand des Rades und fielen dann, für immer verloren, zu Boden. Es war, als mäße ein Zauberer mit seiner Sanduhr die Minuten und Stunden meines Tages. Kurz glaubte ich fast, die Zeit anhalten zu können, indem ich die Tropfen mit der Hand auffing. In diesem abgeschiedenen Garten, dem Garten meiner Großmutter, würde ich für immer geborgen sein. Wenn ich einfach hierblieb, würde es für mich keine Tage

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