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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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immer um Hannahs feuchten, fiebrigen Hals gelegt. Als das Feuer brannte, ging Mutter zu Großmutters Eichenkommode hinüber, deren eingeschnitzte Weinranken in der Dunkelheit an Teufelsfratzen erinnerten. Sie holte einen Federkiel, ein Tintenfass und ein großes rotes Buch heraus, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Mutter blätterte die mit einer engen, geschwungenen Schrift bedeckten Seiten durch, bis sie schließlich auf eine freie stieß. Dann tauchte sie den Federkiel in die Tinte und begann, die Seite mit winzigen Buchstaben zu füllen. Sie schrieb mit links und hatte eine sehr elegante Schrift. Ihr kräftiges Handgelenk bewegte sich so anmutig wie der schmale Kopf einer Araberstute auf dem schlanken Hals. Ihre Finger waren lang und schmal, und die Knochen unter der Haut ließen mich an eine Geschichte denken, die der Onkel im letzten Winter erzählt hatte. Sie handelte von einer jungen Frau, die in einem Mühlbach ertrunken war. Das Mühlrad hatte ihre Knochen ans Ufer geschaufelt, woraufhin der Sohn des Müllers aus ihrem Brustbein eine Harfe gemacht hatte. Ihr rabenschwarzes Haar diente als Saiten, und die Knebel fertigte er aus ihren langen, weißen Fingern an. Wenn er auf dieser Harfe spielte, sprach sie mit der Stimme der ertrunkenen Frau und sang davon, wie ihre Schwester sie in den Bach gestoßen hatte. Obwohl die Geschichte das Mordmotiv nicht verriet, raunte die Tante später, als der Onkel außer Hörweite war, es habe gewiss ein Mann dahintergesteckt.
    Mutters schwarzes Haar, das nur an den Schläfen und am Scheitel graue Strähnen aufwies, fiel ihr über den Rücken und verschwamm nahtlos mit der Dunkelheit, die dicht zwischen den Deckenbalken hing. Ich fragte mich, was für eine Musik die Knochen meiner Mutter wohl machen würden. Allerdings zweifelte ich nicht daran, dass die Worte so kraftvoll und gnadenlos sein würden wie dröhnende Wogen, die an die Felsen schlugen. So wuchtig und kalt wie der Ozean im Osten. Vielleicht, so überlegte ich, würde ich ihre innersten Gedanken hören können, wenn ich diese Musik zu verstehen lernte, einem Fischer gleich, der das Geräusch des ans Ufer schwappenden Wassers deuten kann und somit weiß, wo ihn tosende Wellen oder ein ruhiges Meer erwarten. Leise schlüpfte ich aus dem Bett und schlich zu ihr hinüber. »Was schreibst du da?«, fragte ich.
    Bis zu diesem Moment war sie ganz in sich versunken gewesen. Doch beim Klang meiner Stimme fuhr sie zusammen, klappte das Buch sofort zu und legte es zurück in die Kommode. »Das ist nur die Buchführung. Geh wieder schlafen, Sarah. Es ist noch früh«, meinte sie. Aber als sie sich abwandte, wusste ich, dass sie mir, was das Buch anging, nicht die Wahrheit gesagt hatte. Sicher stand mehr darin, als die Anzahl der Fässer mit Mais oder der Körbe mit Kartoffeln im Keller, denn es war bis zur letzten Seite gefüllt und begleitete sie bestimmt schon lange. Schweigend saßen wir da und warteten auf den Hahnenschrei, um mit dem Backen zu beginnen. Mutters Gesicht war vom Feuer gerötet, und ein dünner Schweißfilm bedeckte ihre Stirn wie ein Diadem. Ihre tief liegenden Augen waren auf die Brandschutzmauer hinter dem Ofen gerichtet. Sie wirkte ganz und gar in sich zurückgezogen, so weit weg und von mir entfernt, dass sie die Geborgenheit und den Trost ihrer Familie weder zu wollen noch zu brauchen schien. Von außen betrachtet, lebte sie nach denselben festen Regeln wie alle anderen Hausfrauen in Andover. Und dennoch fragte ich mich, welche ruhelosen Gedanken wohl hinter ihrer markanten Stirn herumgeistern mochten, da sie offenbar genügten, um ein Buch zu füllen. »Bringst du mir bei, richtig zu schreiben?«, flüsterte ich.
    Sie betrachtete mich erstaunt. »Wenn du möchtest«, erwiderte sie. »Heute vor dem Abendessen fangen wir an.«
    »Warum besuchen wir nicht …« In Erwartung eines Tadels oder einer Geste, die mir verbot, die Familie des Onkels zu erwähnen, hielt ich inne. Doch sie strich nur den Rock auf meinem Schoß glatt und vertrieb damit die Schatten, die in den Falten lauerten.
    »Du meinst wohl, warum wir Margaret in letzter Zeit nicht gesehen haben.« Als ich nickte, umfasste sie ihre Ellenbogen mit den Händen und wandte den Blick ab. »Dein Onkel ist vom Alkohol schamlos geworden und vernachlässigt Frau und Kinder. Die Ältesten von Billerica haben ihn mehr als einmal verwarnt, er müsse besser für seine Familie sorgen. Oft haben wir ihm Unterstützung angeboten, wurden aber stets

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