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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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zurückgewiesen, und wenn Hilfe unerwünscht ist, wird aus Widerstand irgendwann Groll.«
    »Aber warum will er sich nicht helfen lassen?«, hakte ich nach.
    »Dein Onkel und dein Vater sind sich spinnefeind.« Sie hielt inne, ohne dem eine Erklärung hinzuzufügen. »Und nun«, fuhr sie fort, »hat Roger Toothaker weiteren Anlass, uns zu hassen, denn wir haben dieses Haus geerbt. Der Grund war, dass deine Großmutter deinen Vater mehr schätzen gelernt hat als einen Mann, der sich Heiler und Mann Gottes nennt und den ganzen Tag mit dem Becher in der Hand und einer Buhlerin im Arm verbringt.«
    Nun hatte ich eine neue Bezeichnung für Mercy und konnte mir ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. »Und das steht alles in dem großen roten Buch?«
    Sie packte mich fest am Ellenbogen. »Du darfst das rote Buch gegenüber niemandem erwähnen«, zischte sie. »Versprich mir, dass du es geheim halten wirst. Selbst vor deinen Brüdern. Schwöre.«
    Bis jetzt waren die einzigen Geheimnisse, die ich bewahrt hatte, die kindlichen Vertraulichkeiten mit Margaret gewesen. Hier jedoch ging es um etwas anderes. Meine Mutter verlangte von mir, dass ich über die Existenz eines in Leder gebundenen Buches schwieg, von dessen Inhalt ich gar nichts wusste. Das flackernde Kaminfeuer beleuchtete von hinten Mutters Gesicht. Obwohl ihre Augen im Schatten lagen, spürte ich ihren forschenden Blick. Es war das erste Mal, dass sie etwas Anspruchsvolleres als irgendeine körperliche Arbeit von mir erwartete. Ich nickte. »Ich verspreche es«, flüsterte ich.
    Sie tippte sich einige Male mit dem Zeigefinger an die Brust und wies dann auf mich, eine Geste, die wohl anzeigen sollte, dass zwischen unseren Brustbeinen ein imaginärer Faden verlief. »Eines Tages werde ich dir erzählen, was in dem Buch steht, aber nicht heute. Komm, wir müssen mit dem Backen beginnen. Dein Vater ist gerade aufgewacht.«
    Als sie sich abwandte, spürte ich noch immer einen Funken Furcht in ihr wie eine Flamme in einer abgedeckten Laterne. Das rote Buch sah ich den ganzen Winter nicht mehr, doch ich hielt mein Versprechen und redete mit niemandem darüber. Wie Mutter es mir zugesagt hatte, fingen wir noch am selben Tag mit dem Unterricht an, und da sie nun Geduld mit mir hatte, verwandelte sich das Kratzen meines Federkiels bald in leserliche Buchstaben. Wenn wir manchmal nebeneinander am Tisch saßen und irgendeine langweilige Passage aus der Bibel übten, legte sie die linke Hand auf meine rechte und führte sie, um mein Chaos in Ordnung zu verwandeln, sodass ich mich bald nach der körperlichen Nähe sehnte. Am meisten graute mir davor, aus dem Katechismus des großen Cotton Mather abzuschreiben, der Sprüche wie »Der Himmel ist für die frommen Kinder bestimmt, die Hölle für die unartigen« oder »Wie schrecklich wird es sein, unter den Teufeln im Hort der Drachen« enthielt.
    Wenn meine Finger vom Schreiben müde waren, las Mutter mir vor, um meinen Kopf mit Wissen zu füllen wie ein Kopfkissen, das man mit Gänsedaunen stopft. Sie besaß ein Büchlein mit den Gedichten einer längst verstorbenen Frau namens Ann Bradstreet, deren Werke von einem Pastor in Andover veröffentlicht worden waren. An den späten Abenden wurden die Worte der Dichterin zu einem Boot, in dem wir - vorbei an den schneebedeckten Maisfeldern und der bis auf die Schneewehen nackten Vogelscheuche - dahintrieben. Weit hinaus über die großen geäderten Steine, die unter dem Eis schliefen, bis die Erde sich im Frühjahr erwärmte und sie an die Oberfläche drückte.
    Zu singen von Hauptleuten, Königen, Kriegen, Von Städten und Reichen, gegründet in Pracht, Würd in seiner Wucht mir die Feder verbiegen, Und sind sie doch alle versunken in Nacht. Geschichtsschreiber, Dichter den Ruhm sollen mehren, Mein mattes Gekleckse würd’s doch nur entehren .
    Wenn sie zu Ende gelesen hatte, saßen wir schweigend nebeneinander auf der Bank und ließen unsere Gedanken schweifen. Ich lehnte den Kopf an Mutters Schulter. Sie duldete es eine Weile.

    Es war ein kindisches Lachen, das laut und unschicklich über die ins fromme Gebet versunkene Gemeinde hinweghallte. Reverend Barnard, der in der Kanzel stand, bekam vor Schreck den Mund nicht mehr zu und sah aus, als wolle er die heiligen Worte zurückrufen, die er gerade von sich gegeben hatte. Sein Blick suchte nach mir, konnte mich aber nicht sofort ausmachen. Eine brave Frau vor mir drehte sich zu mir um und zischte mich an, als wäre ich eine

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