Die Tochter der Konkubine
Klippen. Meeresluft drang durch die offenen Autofenster herein und zauste Sings Haar, als der Wagen zügig die gewundene Küstenstraße hinauf zum Haus fuhr.
Den Vormittag hatte sie im Büro des Bankfilialleiters Adrian Lau verbracht, der ihnen seine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt hatte, nachdem er Miss Brambles Vorstellungsbrief gelesen hatte. Angus Grant gesellte sich zu ihnen, der liebenswürdige schottische
Rechtsanwalt, der gut zuhörte und nur sprach, wenn er etwas von Bedeutung zu sagen hatte. Seine braunen Augen blickten offen und gewinnend. »Ich habe Ihren Vater gut gekannt«, sagte er zu Sing. »Von den Männern, die ich Freunde nennen durfte, war er der interessanteste. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
Mr. Lau war derart fasziniert gewesen, dass nach mehr als einem Jahrzehnt eine Anspruchsberechtigte auf das Devereaux-Anwesen erschienen war, dass er ihnen angeboten hatte, sie zur Villa Formosa zu begleiten. In Rekordzeit stand für die halbstündige Reise in die Repulse Bay eine Limousine am Bankeingang.
Von seinem Platz neben dem Chauffeur aus wandte Mr. Lau sich zu ihr um: »Als Captain Devereaux Hongkong zu jener schrecklichen Zeit verließ, gab er seinem getreuen Gärtner Ah-Kin die Eigentumsurkunde für sein eigenes Häuschen auf dem Anwesen und sorgte dafür, dass ihm genügend Gelder zuflossen, um die Gartenanlagen in ihrer ursprünglichen Pracht zu erhalten. Ah-Kin ist benachrichtigt worden und erwartet die Ankunft der Besitzerin mit vielen angezündeteten Räucherstäbchen für Ho-Sen-Yi, den Gott der verlorenen Reisenden.«
Die Eisentore der Villa Formosa schwangen lautlos auf. Ah-Kin, dessen weißes Haar und weißer Bart ein noch immer jung wirkendes Gesicht umrahmten, verbeugte sich tief, als der Wagen mit knirschenden Reifen die Kieszufahrt der verlassenen Villa hinauffuhr. Taifunfensterläden verschlossen ihre vielen Fenster, und in ihren kühn geschwungenen Traufen hatte sich Laub angesammelt. Dagegen waren die Gärten zu beiden Seiten des Hauses umso prächtiger und erlesener.
Eine rasch gefegte breite Treppe führte zum imposanten Eingang hinauf. Mr. Lau zog einen Schlüsselbund hervor und sagte, während er ihn durchging: »Soweit ich weiß, befindet sich das Hauptgebäude in gutem Zustand, aber für den Fall, dass man sich dazu entschließen sollte, das Haus wieder zu bewohnen, darf ich vielleicht vorschlagen, dass man den richtigen Handwerker engagiert, auf dass er eine gründliche Inspektion und Renovierung durchführt.
Das ursprüngliche Mobiliar ist in den Lagerhäusern der Firma in der Causeway Bay eingelagert.«
Als die Türen aufgeschwungen wurden, zögerte Sing an der Schwelle und wandte sich dann an Toby und Mr. Lau. »Verzeihung. Darf ich Sie, bei allem Respekt, darum bitten, einen Augenblick den Anblick der Bucht zu genießen? Dies ist ein Haus, das ich allein betreten muss. Sollte es hier Stimmen geben, dann kann nur ich sie hören …«
Sie stockte, aus Angst, man könne ihre Bitte missverstehen. Mr. Lau wirkte einen Augenblick überrascht, aber Toby lächelte und ließ ihre Hand los. »Auf diesen Moment hast du dein ganzes Leben lang gewartet. Lass ihn nicht zu schnell vorübergehen.«
Sing stand allein in der Eingangshalle mit dem Kuppelgewölbe, in der das durch Buntglaspaneele fallende Licht wie durch Kirchenfenster hindurch Muster auf den staubigen Marmorboden malte. Die Vibrationen längst Verstorbener, die durch diese Türen gekommen und gegangen waren, hallten in ihrem Kopf wider.
Sie erwartete, eine Einladung zu spüren einzutreten, aber sie kam nicht. Eine ungeheure Leere umfing sie, ihre Schritte hallten durch ein Nichts, als sie von einem großen und modrig riechenden Raum in den nächsten ging, bis sie in dem leeren Gemach stand, das einst das Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen war.
Sie öffnete die Läden und riss sie weit auf, hin zu den Geräuschen und Gerüchen ferner Ozeane, und der Geist, der hier geherrscht hatte, lebte unleugbar wieder auf.
Die Zeit verging, während sie am Fenster saß und die Meeresluft in das leere Zimmer strömte und ein versprengtes Blatt jagte, das irgendwie hineingelangt war. Viele Stimmen sprachen mit ihr: Meister To, den Sonnenaufgang in den Augen; Fisch, die eine Krabbe aus dem seichten Wasser hob; Ah-Soo, die mit ihrem brennenden Wok hantierte; Tamiko-san in ihrem goldenen Gewand; Rubin mit ihrem Lächeln, das Falten warf. Alle schienen ihr zu sagen, dass es noch etwas gab, das sie ansehen
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