Die Tochter der Konkubine
Interesse am Tod Ihrer Mutter und Ihrer augenscheinlichen Entführung zeigten. Wäre eine britische oder europäische Familie beteiligt gewesen oder meinetwegen eine hochrangige chinesische, dann hätte es eine umfassende Untersuchung gegeben.«
Kopfschüttelnd stellte Miss Bramble ihre Tasse ab. »Ihr Vater musste die Hoffnung aufgeben, etwas über Ihren Aufenthaltsort zu erfahren … allerdings erst, nachdem er eine riesige Belohnung für jegliche Information ausgesetzt hatte, egal von wem, einschließlich, wenn ich es recht verstehe, von den als Triaden bekannten Geheimbünden.« Sie ergriff die beiden Umschläge und klopfte sie auf der polierten Tischoberfläche zusammen, ehe sie sie Sing übergab. »Dies ist ein Brief an Mr. Adrian Lau, den Vorsitzenden der Hongkong-Shanghai-Bank, der ebenfalls gut mit Ihrem Vater bekannt war. Er gibt Ihnen sofortigen Zugang zu allem, was Sie vermutlich
für weitere Wertermittlungen benötigen. Und dieser«, sie reichte ihr den zweiten Umschlag, »ist der vertrauenswürdigste Mann, den ich kenne, Angus Grant, der ein sehr guter Freund Ihres Vaters war und etwas über seine Aktivitäten in Shanghai wissen könnte. Das ist der Rechtsanwalt, der Alistairs Kanzlei übernahm, und als solchen habe ich ihn zum Mit-Testamentsvollstrecker des Trusts eingesetzt.«
Sie ergriff Sings Hand und drückte sie fest. »Glückwunsch, meine Liebe, und willkommen daheim!«
Der bezaubernde alte Bungalow war der perfekte Ort für Sings Genesung. Miss Bramble kümmerte sich wie eine vernarrte Mutter um sie. Sie war überrascht und erfreut, wie schnell Sing gesundete. Ihre Wangen bekamen stetig mehr Farbe, ihre bemerkenswerten Augen wurden wieder klar und besaßen eine Ruhe, die ihre Gesellschaft zu einer Freude machte.
Wie Miss Bramble prophezeit hatte, mussten sie viele Dinge besprechen. Sing holte die Bücher aus ihrer Perlentasche hervor. »Das hier«, sagte sie über den rotgoldenen Band, »ist das private Tagebuch meiner Mutter Li-Xia.« Sing griff nach dem zweiten Buch, dessen verblichener Einband aus pfirsichfarbener Seide bestand. »Auch das ist die Chronik eines schwierigen Lebens, geschrieben von einer Person, die schwer darum kämpfte, als Frau eine Stimme zu finden. Mir wurde gesagt, es sei das Werk meiner Großmutter.«
»Es ist ein großes Privileg, sie zu lesen, und wird mir große Freude bereiten, meine Liebe«, sagte Miss Bramble. Im Gegenzug wurde sie nie müde, Geschichten über Sings Mutter Li-Xia und die legendären Abenteuer ihres Vaters zu erzählen.
Tagsüber widmete Winifred Bramble sich häufig karitativen Angelegenheiten oder war für die Gemeinde tätig, kehrte jedoch stets mit einem wohlüberlegten Geschenk zurück - einer Frucht oder einem frischen Gebäckstück oder mit dem wunderbaren Zeug, das sie Schokolade nannte. »Für die Heilung«, meinte sie nachdrücklich, »des Herzens und des Geistes.«
Miss Brambles fröhliche Freundlichkeit schloss Sing in einen Kokon der Großzügigkeit. Als sie wieder zu Kräften kam, genoss sie ihre englischen Benimmstunden und begann, ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden wieder so aufzubauen, wie sie es gelernt hatte. Winifred Bramble, die noch nie etwas von praktisch umgesetzter chinesischer Volksmedizin und der außerordentlichen Anmut und Wendigkeit von wu-shu mitbekommen hatte, war fasziniert von der Anwendung von Moxazigarren und Akupunktur in den ungewöhnlichsten Körperteilen. Über die seltsamen Gerüche ihrer Kräuterbrauereien beschwerte sie sich nie. Erfreut über ihr ehrliches Interesse, erklärte Sing ihr ihre Verfahren mit Geduld und Sorgfalt.
Colonel Pelhams Privathaus lag nur einen Spaziergang entfernt. Der Colonel kehrte jedes Wochenende auf die Stonecutters Island zurück und nahm seinen Adjutanten mit. Toby verbrachte jede ihm mögliche Stunde im Elms-Haus, und er und Sing waren häufige Gäste von Sir Justin und Lady Margaret, die sich manchmal zu einem Abend Whist oder Rommé zu ihnen gesellten, Kartenspiele, die Sing schnell lernte. Wenn sie allein waren, unterhielten sie und Toby sich manchmal übers Heiraten, doch war klar, dass immer noch zu viele Fragen über ihre Vergangenheit offen waren, als dass Sing schon an die Zukunft hätte denken können.
Fast einen Monat, nachdem Sing von ihrem Erbe erfahren hatte, machten sie sich auf den Weg zur Villa Formosa. Immer weniger Gebäude sprenkelten die grüne Landschaft. Die blaugrünen Gewässer der Repulse Bay brandeten an die sanft ansteigenden
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