Die Tochter der Konkubine
betrachten, sonst regiert das Chaos.
Sing versuchte es erneut und benutzte die gebrochenen und undurchbrochenen Linien als Wegweiser, um die Augen der Drachen in neuen Kombinationen zu drücken, bis nach einer Serie von acht eindeutigen Klicks eine breite, flache Schublade aufglitt. Darin befanden sich eine Sammlung von Akten, die mit Klebeband zusammengebunden waren, etliche Hauptbücher und zahlreiche versiegelte Umschläge. Auf dem obersten standen zwei Worte: Mein Kind.
Zitternd erbrach Sing das Wachssiegel und zog ein gefaltetes Pergamentpapier mit dem eingeprägten Emblem ihres Vaters heraus. Sie ging ans Fenster, wo Sonnenlicht auf die schwungvoll geschriebenen Zeilen fiel.
Mein heiß geliebtes Kind,
ich bete zu allen Göttern, die es sowohl im Osten als auch im Westen geben mag, dass Du diese Zeilen eines Tages liest. Wisse vor allem, dass Deine Mutter ihr Leben hingab, damit Du leben konntest, und Dich in die Hände der Person gab, der sie auf dieser Welt am meisten vertraute. Wisse, dass Dein Vater ein
anständiger Mann war, der sie so von Herzen liebte, wie man einen Menschen nur lieben kann.
Uns kümmerten weder Rassenunterschiede noch die Konventionen einer barbarischen Gesellschaft. Wir atmeten dieselbe Meeresluft, wurden von derselben hellen Sonne gewärmt und von denselben Meeresbrisen gekühlt. Wir befanden uns zusammen unter demselben wunderbaren Himmel, demselben gütigen Mond und denselben strahlenden Sternen. Mit diesen Dingen hatte ich schon ein Leben lang gelebt … doch es war Deine Mutter, die sie mir zeigte.
Ich kann nur von ganzem Herzen hoffen, dass das Leben nicht zu grausam zu Dir war und Du eines Tages auch solch eine Liebe findest. Ohne jemanden, der mit Dir Freude und Trauer teilt, ist die Welt ein einsamer Ort.
Dass Du diesen Brief liest, bedeutet, dass diejenigen, denen ich vertraute, meine Wünsche ausgeführt haben. Dieses Haus war mein Traum. Es sollte die von mir geliebten Menschen vor jenen beschützen, die wahre Schönheit nicht sehen oder den Begriff der Unschuld nicht verstehen konnten. Dass der Liebsten, die deine Mutter war, diese auf so grausame und ungerechte Weise genommen wurden, hat mich mit nichts als Verzweiflung zurückgelassen.
Mögen die Villa Formosa und ihre Gärten Dir ein Zufluchtsort und eine kleine Entschädigung für alle Ungerechtigkeiten sein, die Dir deswegen widerfahren sein mögen, weil Du in einer Welt, die Dir so gewaltsam aufgedrängt wurde, mein Blut bist und meinen Namen trägst.
Setze Deine Suche nicht weiter fort, mein liebes Kind. Deine wahre Reise beginnt hier, wo Li-Xias endete.
Dein Dich liebender Vater
Ben Devereaux
Unter den Papieren entdeckte sie eine Aktensammlung mit der Bezeichnung GELBER DRACHEN, doch wandte sie ihre Aufmerksamkeit
zunächst den persönlichen Tagebüchern ihres Vaters zu. Erst am Morgen des nächsten Tages war sie mit der Lektüre des Lebensberichts von Ben Devereaux fertig. Die Tagebücher endeten abrupt am Todestag ihrer Mutter - die Seite war so leer wie das beendete Leben, bis auf einen Namen, der wie von einer anderen Hand quer über die Seite gekritzelt worden war: Chiang-wah.
Eines Morgens, als sie aus Bens Arbeitszimmer auf die Terrasse trat, wandte Ah-Kin sich von den Trögen mit Ringelblumen ab, um die er sich gerade kümmerte, und verbeugte sich höflich. »Verzeihen Sie mir, Herrin. Darf ich Sie einen Augenblick beanspruchen? Es gibt Dinge, die ich Ihnen zeigen muss und die nur für Ihre Augen bestimmt sind.«
Sing verbeugte sich ihrerseits. »Es wird mir eine Ehre sein, Ihnen zu folgen, wohin auch immer Sie mich in diesen gesegneten Gärten führen.« Sie folgte dem Gärtner zu einer alten Steinmauer hinter einer Wand aus schwarzem Bambus und eine kurze Treppe hinunter zu dem kleinen Schrein von Pai-Ling. Nachdem er die scharlachroten Türen geöffnet hatte, trat er beiseite und machte den Blick auf eine goldene Statue von Kuan-Yun frei, die in einen strahlenden Lichtschein aus Regenbogenfarben getaucht war. »Der Himmel hat meinem Master Di-Fo-Lo verziehen. In seinem Kummer hat er die Göttin von den Klippen geschleudert. Jahrelang lag sie am Grund des Meeres, bis Fischer sie in ihrem Netz wieder hochgeholt haben. Sie hatten Angst, der Geist von Di-Fo-Lo würde sie verfolgen, wenn sie sie nicht in den Schrein zurückbrächten.«
Er strahlte vor Freude, als Sing sich vor der Statue verbeugte. »Bei Kuan-Yuns Rückkehr wusste ich, dass Sie bald folgen würden. Ich habe sie zusammen mit den
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