Die Tochter Der Midgardschlange: Die Asgard-Saga
braucht mich Pardeville«, sagte Vera. »Solange ich nicht zu seinen Gunsten ausgesagt habe, wird er mir nichts tun, keine Sorge.« Sie wedelte unwillig mit beiden Händen. »Und jetzt verschwinde! Wenn er Verdacht schöpft, dann sind wir beide tot!«
Am liebsten hätte Katharina darüber gelacht, allein um den Worten etwas von ihrer Schärfe und Bedrohlichkeit zu nehmen. Aber der Anblick der misshandelten Gauklerin machte es ihr unmöglich, und es schnürte ihr im Gegenteil noch heftiger die Kehle zu. Ihre Augen begannen zu brennen, und sie spürte, dass sie kurz davor war, den Kampf gegen die Tränen endgültig zu verlieren. Einen ganz kurzen Augenblick lang hatte sie tatsächlich die verrückte Idee, sich einfach auf den Wächter hinter ihr zu stürzen und ihm den Schlüssel zu Veras Kette abzunehmen, um gemeinsam mit ihr zu flüchten, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder.
»Ich … spreche noch einmal mit ihm«, murmelte sie hilflos. »Bestimmt lässt er dich hier raus, wenn ich ihn darum bitte. Vielleicht … ich meine … vielleicht weiß er gar nicht, was sie mit dir gemacht haben.«
Vera verzichtete darauf, sie an ihre eigenen Worte von gerade eben zu erinnern, aber ihr Blick sprach Bände. »Wenigstens scheint er dich gut zu behandeln«, sagte sie.
Katharina ertappte sich dabei, einen Moment lang nach einem versteckten Vorwurf in diesen Worten zu suchen, schämte sich ihrer eigenen Gefühle und beeilte sich, zu nicken. »Ja. Erhat mir sogar die Katzen gelassen.« Sie sah sich demonstrativ um. »Und … Dwegr? Ich meine, wo …?«
»Er ist weggelaufen«, antwortete Vera. »Was nur beweist, was ich immer schon gesagt habe, nämlich dass Tiere schlauer sind als Menschen. Und vor allem«, fügte sie mit einem bezeichnenden Blick hinzu, »nicht so gutgläubig wie gewisse Leute, die ich kenne.«
»Er hat gesagt, ich wäre keine Gefangene.« Katharina hatte plötzlich das absurde Bedürfnis, Guy de Pardeville zu verteidigen. Sie versuchte zu lachen, aber es wurde eher ein Krächzen heraus. »Er hat sogar gesagt, ich dürfte gehen, wenn ich will.«
Vera warf einen schrägen Blick in Richtung des Wächters. »Hast du es versucht?«
Natürlich hatte sie das nicht, aber erst, als sie diese Frage hörte, wurde ihr selbst klar, warum nicht: Wohin sollte sie denn gehen? Jetzt, wo Erik und Ansgar fort waren, gab es niemanden mehr, an den sie sich um Hilfe hätte wenden können.
»Geh jetzt«, sagte Vera noch einmal. »Wenn er dich wirklich lässt, dann erkunde das Schloss. Vielleicht findest du einen Fluchtweg.«
Katharina antwortete zwar mit einem Nicken, aber sie wussten beide, wie aussichtslos diese Idee war. Pardevilles Schloss war mindestens ebenso sehr Gefängnis wie Burg, und hinauszukommen vielleicht noch schwieriger als herein.
Hinter ihr räusperte sich der Wachtposten zum zweiten Mal und jetzt hörbar ungeduldig, und Vera musste sie kein drittes Mal auffordern, zu gehen.
*
Wie Katharina herausfinden sollte, hatten sie beide Recht. So schnell, dass es schon beinahe einer Flucht glich, war sie nicht nur die steile Treppe wieder hinauf-, sondern direkt durch dieerste Tür ins Freie geeilt, um ein paar tiefe, unendlich erleichterte Atemzüge zu nehmen. Erst hier oben wurde ihr richtig bewusst, wie grässlich der Gestank dort unten gewesen war, und wie finster und bedrückend eng das lichtlose Verlies, in dem Vera eingesperrt war. Zorn auf Pardeville und unendliches Mitleid mit ihrer Freundin vermischten sich mit dem immer stärker werdenden Gefühl, dass auch das ganz allein ihre Schuld war, und machten es ihr für Minuten fast unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
Irgendwann jedoch taten die frische Luft und das helle Sonnenlicht (und vor allem das Gefühl, nicht mehr eingesperrt zu sein) ihre Wirkung, und ihr hämmernder Puls beruhigte sich im gleichen Maße, indem das Chaos hinter ihrer Stirn verebbte. Dass sie dem Herrn dieser Burg nicht trauen konnte und er nicht nur log, sondern ihr ohne zu zögern dasselbe – wenn nicht Schlimmeres – antun würde wie Vera, hatte sie schließlich vorher gewusst. Warum also war sie so erschrocken?
Tief in sich kannte sie die Antwort auf diese Frage schon, bevor sie sie sich überhaupt stellte, aber sie verscheuchte den Gedanken, nahm einen weiteren, sehr tiefen Atemzug und erfreute sich einen Moment lang einfach nur am köstlichen Geschmack der Luft (die nur ein ganz kleines bisschen nach Pferdemist, Hühner- und Schweinedreck roch) und sah
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