Die Tochter der Seidenweberin
Verpflichtungen nachkämen, die sie im vergangenen Jahr eingegangen waren, wäre das Kaufmannsglück vollkommen.
Lisbeth bahnte sich einen Weg zwischen den Bänken hindurch und setzte sich zu Stephan, der mit ihrem Schwager Andreas Imhoff und dessen Nürnberger Vettern beisammensaß. Ein junger, blondlockiger Bursche, fast ein Kind noch, war dabei, dessen Gesicht sich bis über die Ohren rot gefärbt hatte. Denn sein Vater hob gerade an, eine Geschichte zum Besten zu geben, die ihm ganz und gar nicht behagte.
»Kennt ihr den Brauch des Seligenstädter Geleits?«, fragte der Vater lachend seine Vettern. Andreas und die anderen schüttelten verneinend die Köpfe, nur auf Stephans Miene schlich sich ein wissendes Lächeln, und er zwinkerte Lisbeth schalkhaft zu. Er schien zu ahnen, was es mit diesem Brauch auf sich hatte.
»Auf unserer Reise von Nürnberg hierher wechselt in Seligenstadt zum letzten Mal die Geleitstruppe.« Andreas’ Vetter machte eine Pause und vergewisserte sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer.
Diese nickten zustimmend, und er fuhr fort: »Wer von uns zum ersten Mal diese Reise antritt, hat bei dieser Gelegenheit unter Beweis zu stellen, dass er ein wahrer Mann ist und würdig, in die Nürnberger Kaufmannschaft aufgenommen zu werden.«
»Und worin besteht die Probe?«, wollte Andreas wissen.
Der Jüngling erhob sich von seiner Bank und wollte sich davonstehlen, bevor der Vater mit seiner Geschichte zu Ende kam. Wegen dieser Sache hatte er bereits genügend Hohn und Spott erdulden müssen. Doch sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte ihn auf seinen Sitz nieder. »Darin, den hölzernen Geleitslöffel in einem Zug auszutrinken«, erklärte er glucksend.
»Und wie viel fasst der Löffel?« Andreas stellte die Frage, auf die sein Vetter gewartet hatte.
»Zwei Seidel. Wein – nicht Bier!«
»Oh! Ein anständiges Maß, will ich meinen!« Andreas lachte. »Und hat er es geschafft?«
Der Junge versuchte, sich so klein zu machen wie eben möglich. Beinahe rutschte er unter den Tisch. Lisbeth, die ahnte, was nun käme, verspürte echtes Mitleid mit dem armen Kerl.
»Nein, hat er nicht«, erklärte sein Vater mit gespielter Verzweiflung. »Gerade einmal halb ausgesoffen hat er ihn. Das kann mein Gaul besser! Hat mich ein hübsches Sümmchen gekostet, die ganze Kaufmannschaft als Entschädigung dafür bei der Rast freizuhalten. Denn der Bengel hat ja kein eigenes Geld.« Er schlug seinem Sohn auf die Schulter und lachte dröhnend. »Doch dafür habe ich ihn in der letzten Woche ordentlich schuften lassen.« Seine letzten Worte gingen im Gelächter der Zuhörerschaft unter.
Die Heiterkeit wich freudiger Erwartung, als zwei Schankmädchen dampfende Platten mit gekochtem Rindfleisch auf den Tisch stellten. Fingerdicke, saftige Scheiben waren es, übergossen von sämiger Sauce, die grün war von all den frischen Kräutern, die man hineingerührt hatte. Hungrig band Lisbeth sich Löffel und Messer vom Gürtel und aß.
So sehr waren sie mit ihrer Mahlzeit beschäftigt, dass sie nicht bemerkten, wie sich die Stimmung im Hof des Lämmchens plötzlich veränderte. Die Ausgelassenheit war einer gespannten Aufregung gewichen.
Einige Kaufleute hatten sich von ihren Bänken erhoben, standen zu zweien oder dreien beisammen und sprachen erregt miteinander, die Gesichter sorgenvoll gefurcht. Andere waren von draußen in den Hof getreten, hatten sich zu ihren Kollegen gesellt, auch sie in ungewohnter Aufregung.
Erst als ihr Schwager Hans zu ihnen an den Tisch trat, nahmen die Speisenden die Veränderung um sich her wahr. Etwas Außerordentliches musste geschehen sein.
Hans Her hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. »Habt ihr es schon gehört?«, fragte er.
»Was gehört?«, wollte Stephan wissen.
»Was Mertyn in Köln so treibt«, erlaubte Hans sich einen bitteren Scherz.
Lisbeth sog erschreckt die Luft ein, doch sogleich wurde Hans’ Miene ernst, und er erklärte: »Eben kam ein Fuggerscher Reiter mit einer Nachricht aus Köln. Der Rat der Stadt will uns aus Köln vergraulen!«
»Wen will er vergraulen?«, fragte Lisbeth entsetzt.
»Die großen Handelsgesellschaften!«
Verständnislos richteten die Augen aller sich auf den altgedienten Vertreter der Ravensburger in Antwerpen. Hans jedoch ließ sich zunächst schwer auf die Bank fallen und nahm einen großen Schluck aus seinem Becher, bevor er zu berichten begann: »Der Rat der Stadt Köln hat ein Gebot an alle auswärtigen
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