Die Tochter der Seidenweberin
Stephan und Lisbeth das Glück hold, und es gelang ihnen, ungesehen über den Hof ins Haus zu gelangen. Vor der Tür von Lisbeths Kammer im Obergeschoss blieb Stephan stehen und ergriff ihre Hand. Den ganzen Weg hatten sie schweigend zurückgelegt, und auch jetzt blickte Stephan sie wortlos an. Was blieb auch zu sagen? Die Magie der Nacht war verflogen, und keine Worte würden sie zurückrufen können. Mit trauriger Langsamkeit hob Stephan Lisbeths Hand an seine Lippen, so, als wolle er den Moment der Trennung noch einen Augenblick hinauszögern. Seine Berührung war zärtlich, bedauernd. In nichts erinnerte sie an die Leidenschaft der Nacht.
Dann, beinahe abrupt, gab er ihre Hand frei, wandte sich um und eilte die Stiege hinab, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Lisbeth blickte ihm nach, und erst als sie seine Schritte am Ende der Stiege verhallen hörte, trat sie in ihre Kammer. Mechanisch entkleidete sie sich und schlüpfte unter das Laken. Ihr Körper war müde und sehnte sich nach Schlaf, doch ihr Geist fand keine Ruhe.
Die Erinnerung an Stephans Berührung, an die Glätte seiner Haut erweckte in Lisbeth erneut dieses erregende Gefühl. Doch diesmal kämpfte sie es entschlossen nieder. So etwas durfte sie bei dem Gedanken an einen anderen Mann nicht empfinden. Ein Mann, der zu allem Unglück auch noch der Bruder ihres Gemahls war.
Nie hätte sie sich vorstellen können, dass es solch eine Leidenschaft geben könnte, wie sie sie mit Stephan erlebt hatte. Und noch weniger, dass sie selbst zu dieser Leidenschaft fähig war. Dabei liebte sie Mertyn. Für sie hatte es immer nur ihn gegeben, solange sie sich erinnern konnte. Nie hatte sie einen anderen Mann gewollt.
Lisbeth biss sich auf die Lippen, als sie daran dachte, dass es just hier in Frankfurt gewesen war, wo Mertyn einst bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten hatte. Peter Lützenkirchen hatte sie ihm damals aus Fürsorge für seine Tochter verwehrt, weil er befürchtete, Mertyn schlüge seinem Vater nach, der es mit der ehelichen Treue nicht so genau nahm. Und nun war sie es, die ihrem Mann die Treue gebrochen hatte. Und das – Ironie des Schicksals – mit Stephan, der ebenfalls ein Sohn des alten Mertyn war.
17 . Kapitel
D er Herbst war früh gekommen in diesem Jahr. Feuchte Kälte kroch durch die Ritzen in die Werkstatt und ließ die Erinnerung an den schönen Sommer verblassen. Verstohlen legte Lisbeth die Hand an die schmerzende Schläfe. Es fiel ihr schwer, sich auf das Gespräch mit der Kundin zu konzentrieren.
»Ja, es müsste ein Grün sein. Ein helles Grün. Aber nicht zu gelb. Auf gar keinen Fall ein blaues Grün. Wisst Ihr, was ich meine?« Gertrud Rinck blickte sie fragend an, und Lisbeth nickte ergeben.
»Nicht zu dunkel. Aber etwas Farbe muss schon sein. Also nicht zu blass!«
Lisbeth nickte abermals.
»Tante Lisbeth, ich habe einen Vorschlag«, ließ sich Sophie vernehmen. Das Mädchen hatte seinen Platz am Webstuhl verlassen und war zu Lisbeth und Frau Rinck getreten.
Gertrud Rinck zog ob der Störung unwillig die Augenbrauen hoch.
»Nicht jetzt, Sophie!«, mahnte Lisbeth.
»Aber ich …«
»Nicht jetzt, sagte ich. Geh zurück an deine Arbeit!«, befahl Lisbeth ihrer Nichte schroff. Doch sogleich taten ihr die harschen Worte leid. »Wenn Frau Rinck und ich die Seide für die neuen Vorhänge für ihren Saal ausgesucht haben, komme ich zu dir«, fügte sie daher milder hinzu.
Sophie biss sich auf die Lippe, doch ohne weitere Widerrede verzog sie sich wieder hinter ihren Webstuhl.
»Oder meint Ihr, ich sollte eine ganz andere Farbe wählen?« Frau Rinck nahm ihren Redefluss dort wieder auf, wo sie ihn unterbrochen hatte. »Kein Grün – oder doch! Grün ist genau richtig. Aber wie ich sagte: nicht zu dunkel …«
Lisbeth zwang sich zu einem Lächeln. »Ich denke, ich weiß genau, was Ihr Euch vorstellt«, unterbrach sie den Wortschwall. »Lasst mich die Seide nur einfärben, Ihr werdet sehen, sie wird Euren Saal vorzüglich schmücken.«
»Aber wenn die Farbe mir nicht gefällt? Dann werde ich die Seide nicht …«
Abermals fiel Lisbeth ihrer Kundin ins Wort. »Dann werden wir eine Lösung finden. Ihr müsst nichts bezahlen, was Euch nicht gefällt. Darauf mein Wort.«
Gertrud Rinck bedachte sie mit einem zweifelnden Blick, doch dann nickte sie. »Gut. Wann werdet Ihr liefern?«
»Zwei Wochen wird es schon dauern.«
Frau Rinck gab sich damit zufrieden, und als sich die Werkstatttür endlich hinter ihr geschlossen
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