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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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kalte Angst von ihm Besitz ergriff. Dann würde es für keinen von ihnen Gnade geben.
    Mit Bernhard Eys, Jakob Spelz und Eberhard Kols, welche die Kirchenhoheit von Sankt Maria verletzt hatten, fuhr man fort. Einer nach dem andern traten Mertyns Ratskollegen vor, um sich die Vergehen, derer man sie für schuldig befand, anzuhören. »In den Turm!«, lautete das Urteil jedes Mal. »In den Turm, bis man Euch dem Greven zur Befragung überstellt!«
    Befragung, das bedeutete die Folter. Sie alle würden ihre Taten gestehen, mochten sie jetzt auch noch lautstark protestieren, dachte Mertyn resigniert, und eine Woge aus Angst schlug über ihm zusammen. Er vermochte den Anklagen nicht länger zu folgen. »In den Turm. In den Turm.« Nur mehr schwach, wie durch dichten Nebel gedämpft, drangen die Worte des Zunftmeisters an sein Ohr.
    »Mertyn Ime Hofe!« Wie der Stoß eines Dolches zerschnitt sein Name jäh den Nebel, der Mertyn umgab. Mit zitternden Knien trat er nach vorn.
     
    Seit Stunden drehten Lisbeths Gedanken sich im Kreis, wechselten zwischen Hoffen und Bangen und verschwammen mit dem fahlen Licht, das durch ein schmales Fenster in die Kammer fiel, zu einem einzigen, trostlosen Brei.
    Gegen Mittag hatte Sophie den Kopf zur Tür hereingesteckt. »Möchtest du zum Essen kommen, oder soll ich dir etwas heraufbringen?«
    »Danke, mein Kind«, hatte Lisbeth abwesend geantwortet. »Ich bin nicht hungrig.«
    »Soll ich dir Gesellschaft leisten?«
    »Nein, Sophie. Das ist lieb von dir, aber lass mich noch ein Weilchen allein, ja?«
    Unschlüssig war Sophie in der Tür stehen geblieben. »Es wird alles gut werden, Tante Lisbeth. Er kommt zurück, du wirst sehen«, hatte sie versichert. Doch in ihren Augen hatten Tränen geglitzert – auch sie hatte ihre Sorge um Mertyn nicht verbergen können.
    »Ja, das wird er bestimmt«, hatte Lisbeth matt geantwortet.
    Wenig drauf hatte Sophie ihnen einen Krug Wasser und frisch gebackenes Brot in die Kammer hinaufgebracht, doch während Andreas hungrig davon aß und Peter an einem knusprigen Kanten nagte, hatte Lisbeth es nicht vermocht, auch nur einen Bissen zu essen. Als Sophies Schritte auf dem Flur verklungen waren, war sie aufs Neue in dem Grau aus Hoffen und Bangen versunken.
    Früh kroch die Dämmerung aus den Ecken der Kammer, doch Lisbeth hatte nicht die Kraft, ein Licht zu entzünden. Wenn ihr die Nacht zuvor bereits schrecklich und unendlich lang erschienen war, so war sie ein Nichts gegen diesen Dreikönigstag.
    Am späten Nachmittag klopfte es energisch an das Tor. Das Hämmern drang bis in ihre Kammer hinauf, weckte die Jungen auf und riss Lisbeth aus ihrer Düsternis. Nun war es so weit, schoss es Lisbeth durch den Kopf. Nun kamen sie, um es ihr zu sagen!
    Sie hörte die eiligen Schritte auf der Treppe, das Pochen gegen ihre Tür, dann die Stimme ihrer Schwester: »Lisbeth, du solltest herunterkommen!«
    Wie gelähmt verharrte Lisbeth auf der Bettstatt. Nein! Das war alles, was sie denken konnte. Nein! Sie wollte es nicht hören. Es war nicht geschehen. Es durfte nicht sein!
    Der kleine Andreas sprang auf, um die Tür zu öffnen, doch Lisbeth hielt ihn zurück. Er sollte es nicht auf diese Weise erfahren. Sie selbst würde ihm sagen, dass sein Vater nicht zurückgekehrt war. Sie würde versuchen, es ihm zu erklären, später, wenn sie es verstanden hatte.
    Unendlich langsam erhob Lisbeth sich von ihrer Bettstatt und öffnete die Tür.
    »Lisbeth, du solltest herunterkommen«, wiederholte Agnes. »Mertyn ist zurück!«
    Ein Schluchzen der Erleichterung entfuhr Lisbeths Kehle. Tränenblind hastete sie die Treppe hinab. Mertyn stand neben dem steinernen Lavacrum in der Halle, wächsern im Gesicht, doch augenscheinlich unversehrt! Der Herrgott hatte ihr Flehen erhört!
    Überwältigt von dem plötzlichen Wechsel von abgrundtiefer Angst zu unfassbarer Freude, warf Lisbeth sich ihrem Gemahl, lachend und weinend zugleich, in die Arme. Wieder und wieder musste sie ihn fest an sich drücken, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte, dass ihr die Sinne, vernebelt durch die Stunden des Bangens, keinen Streich spielten und sie Mertyn tatsächlich in den Armen hielt.
     
    »Der Ausschuss hatte eine Menge Klagepunkte gesammelt, die sie jedem Einzelnen von uns zur Last legten«, berichtete Mertyn später, als man in der Stube der Wolkenburg zu Tisch saß. In knappen Worten schilderte er, was sich in dem Hause Quattermarkt zugetragen hatte. Er wirkte matt und entkräftet. Dieser Tag

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