Die Tochter der Seidenweberin
hochzuziehen pflegte, eine ungewöhnliche Mimik, wie sie auch Peter beherrscht hatte. Warum war ihr das nicht früher aufgefallen? All das mochte Erbteil des alten Lützenkirchen sein.
Doch nein, das war unmöglich, schalt Fygen sich, das war absurd! Aber dann schlichen sich de la Vegas Worte in ihren Kopf zurück: »Er hatte hier auch eine Familie … eine Familie!«
Fygens Mund war wie ausgetrocknet, und sie vermochte kaum zu sprechen. Es klang wie das Rascheln von Papier, als sie kaum vernehmlich flüsterte: »Ihr … Ihr seid sein Sohn?«
Alejandro blickte ihr fest in die Augen, und sie kannte die Antwort, bevor er nickte.
In Fygens Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Dieser Mann hier, Senyor de la Vega, war Herr Alexander, der Faktor der Ravensburger Handelsgesellschaft in Valencia. Und zugleich war er Peters Halbbruder!
Wieder einmal hatte der alte Lützenkirchen es geschafft, in ihrem Leben für Ungemach zu sorgen, dachte Fygen. Wie viel Unheil mochte er in Valencia angezettelt haben? Und was mochte er de la Vega angetan haben? Dessen Reaktion nach konnte er nicht der treusorgende Vater gewesen sein, den sich ein Sohn erhoffte … Doch das war er auch für Peter nicht gewesen.
Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass zwischen Peter und ihm eine Beziehung, eine Blutsverwandtschaft bestand. Allein schon um Alejandros schwarzes Haar und des dunklen Teints willen nicht. Doch jetzt, da sie es wusste, erklärte es ihr manches. Seine auffällig blauen Augen, die so gar nicht zu seinem dunklen Äußeren passen wollten, und vor allem die seltsame Vertrautheit, die sie bereits bei seinem Anblick an Bord der Karavelle verspürt hatte. Doch es erklärte ihr immer noch nicht, warum er ihr schlechte Seide geliefert hatte.
Verstohlen musterte Alejandro Fygen unter gesenkten Lidern. Scheinbar ruhig saß sie da, versuchte das Unfassbare, was er ihr soeben offenbart hatte, zu verstehen. Sie jammerte oder keifte nicht, wie es viele Frauen getan hätten, und war auch nicht einer Ohnmacht nahe.
Fygen Lützenkirchen. Die Frau seines Bruders … des Mannes, den er einst so glühend beneidet hatte. Um seinen Namen, um seine eheliche Geburt. Und dem zu allem Glück auch noch diese beeindruckende Frau gehörte, wie er nun feststellen musste. Wieder spürte Alejandro den Neid in sich aufsteigen.
Doch hatte sie nicht erwähnt, dass ihr Gatte verstorben war? Welcher Ehemann, der seine Sinne beieinanderhatte, ließe eine solche Frau durch die Welt reisen?
Aus freien Stücken hätte Alejandro ihr seine Identität sicher nicht preisgegeben. Doch sie war scharfsinnig genug, selbst darauf zu kommen. Es hatte nur der Erwähnung des alten Wilhelm bedurft, und ihr hatte sich der Zusammenhang erschlossen. Vielleicht gab es mehr Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinem Bruder, als er gedacht hatte? Halbbruder, verbesserte er sich in Gedanken.
Laut sagte er: »Sein Bastard!«
So viel Bitterkeit lag in den Worten, Verächtlichkeit und auch Schmerz, dass es Fygen einen Stich versetzte. Eine Woge von Mitleid überflutete sie. Mitleid mit diesem stolzen Mann, der seinen Vater geliebt und zugleich gehasst haben musste. Und mit einem Mal verstand sie. Einem Impuls nachgebend, legte sie ihre Hand auf die seine. »Und deshalb sabotiertet Ihr meine Seidenlieferung?«, sagte sie sanft. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Alejandro blickte zu Boden. Am liebsten wäre ihm, wenn sich die Erde unter ihm auftun und ihn verschlucken würde, so peinlich war ihm die Angelegenheit mit einem Mal. Er kam sich kindisch vor und schämte sich vor dieser Frau, die beherzt genug war, durch die Welt zu reisen, um dem Misslingen ihrer Geschäfte auf den Grund zu gehen. Wie kleinmütig sein Handeln gewesen war, wie gänzlich unbedacht.
Wie hatte er sich nur so eine Blöße geben können? Noch dazu vor dieser Frau. Was mochte sie von ihm denken? Gewöhnlich pflegte er sich nicht sehr darum zu scheren, was die Menschen von ihm dachten. Doch aus einem unerfindlichen Grund war es ihm plötzlich wichtig, was sie von ihm hielt.
Alejandro hob den Kopf und blickte Fygen forschend an. Ihre Augen hatten die Farbe von warmem Sand. Kein Hohn lag darin, keine Häme, nur Verstehen und ehrlich empfundenes Mitgefühl.
In Alejandro kämpfte ein seltsames Gemisch aus Gefühlen. Doch nach und nach wich die Scham, machte der Erleichterung Platz, und nach einer Weile hatte er seine Fassung zurückerlangt. Er hob die
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