Die Tochter der Seidenweberin
dann verheiratete ihre Mutter sich in Valencia und nun auch noch Herman. Einzig Mertyn war ihr geblieben, doch der kümmerte sich des Tags um seine Geschäfte und verbrachte die Abende zumeist auf der Gaffel, wo er nicht müde wurde, die Geschehnisse in der Stadt und die Entscheidungen des Rates wieder und wieder durchzukauen.
Als Lisbeth in Fygens Kontor trat, fand sie Stephan hinter dem großen Tisch sitzend, tief in seine Arbeit versunken. Es irritierte sie, ihn dort in jenem Sessel sitzen zu sehen, in dem vorher Herman und davor seine Mutter gesessen hatten. Doch es war nur selbstverständlich. Stephan war seinen Pflichten in den Jahren ihrer Abwesenheit so gut nachgekommen, dass Fygen sich entschlossen hatte, ihn die Geschäfte nach Hermans Tod weiterführen zu lassen, nun freilich als Kaufmannsgehilfe. Nach wie vor sandte sie Briefe mit Anweisungen, wie er die Geschäfte handhaben solle, doch in vielem ließ sie ihm freie Hand.
Es war wenig erstaunlich, dass Stephan über seinen Büchern saß, obschon heute ein Feiertag war, dachte Lisbeth. Ihr Schwager arbeitete stets viel. Seit Hermans und Albertos Tod erledigte er die ganze Arbeit, die sie sich zuvor zu dritt geteilt hatten, allein, und es schien ihr, als setze er allen Ehrgeiz darein, zu beweisen, dass Fygens Vertrauen in ihn gerechtfertigt war.
Bei Lisbeths Eintreten zog Stephan für einen kurzen Moment die Augenbrauen zusammen, legte die Feder beiseite und schob hastig einige Blätter aufeinander. Dann glättete sich seine Miene zu einem strahlenden Lächeln, und er sprang auf. »Lisbeth, welche Überraschung, dass du mich besuchen kommst.«
»Mutter bat mich darum, einen Blick in die Geschäftsbücher zu werfen …«, antwortete Lisbeth und zog entschuldigend die Schultern hoch.
»Du willst dich an so einem Tag doch nicht in die Bücher vergraben!«, rief Stephan aus. »Ich weiß etwas Besseres! Du hast in letzter Zeit nicht viel Freude gehabt. Es wird Zeit, dass du auf andere Gedanken kommst! Wir gehen aus!«
Abwehrend hob Lisbeth die Hände. »Aber das geht doch nicht! Deine Arbeit …«, hob sie an zu widersprechen und wies auf die Papiere vor ihm auf dem Arbeitstisch.
»Die läuft schon nicht weg!« Stephan ließ sich nicht beirren. Entschlossen nahm er Lisbeth an die Hand.
Es war ein schönes Gefühl, dass jemand sich um sie sorgte. Und vielleicht hatte Stephan ja recht, dachte Lisbeth. Sie hatte wirklich nicht viel Freude gehabt in den vergangenen Monaten. Kritisch blickte sie an ihrem schlichten dunklen Kleid hinab, das sie gewöhnlich zur Arbeit trug. »Aber ich kann doch so nicht ausgehen!«
»Holde weibliche Eitelkeit!« Stephan lachte. Er ließ Lisbeths Hand los und trat einen Schritt zurück. Fachmännisch glitt sein Blick über ihre biegsame Gestalt. »Du bist wunderschön«, bestätigte er ernsthaft.
Lisbeth errötete ob dieses Kompliments. Dass sie schön sei, hatte ihr lange keiner gesagt. Ohne auf ihren weiteren Protest einzugehen, zog Stephan sie mit sich hinaus.
Als sie das Zunfthaus der Brauer auf der Schildergasse erreichten, hatte sich der Himmel mit Wolken verhängt. Zu dieser vorgerückten Nachmittagsstunde drängte sich bereits ein fideles Völkchen unter der aufwendig bemalten Decke des Schankraumes im Hause Mirweiler. Die Brauer hatten es erst vor wenigen Jahren der Familie vom Spiegel abgekauft, weil ihr altes Zunfthaus aus allen Nähten geplatzt war.
»Un wat kritt ühr?«, herrschte der grobschlächtige Braugeselle hinter dem Tresen Stephan und Lisbeth an, kaum dass er ihrer ansichtig wurde. Zum Schutz gegen den goldgelben Gerstensaft hatte er sich eine blaue Schürze um den Bauch gebunden.
»Zwei Dicke!«, bestellte Stephan, und nur wenige Augenblicke später stellte der Geselle unsanft zwei überschäumende Becher vor sie auf das triefnasse Holz der Theke. Freundlichkeit gehörte nicht zu seiner Profession.
Durstig nahm Lisbeth einen tiefen Schluck des erfrischenden Keutebiers. Es schmeckte weit besser als das Gruitbier, zumal es nicht so leicht verdarb. Wie oft geschah es, dass man in einem Bierzapf altes Gruitbier vorgesetzt bekam.
Mit einem Mal verdüsterte sich das ohnehin dämmrige Licht im Schankraum, und Tropfen prasselten gegen die bunten, mit dem Wappen der Brauerzunft bemalten Fenster. Draußen schien ein heftiger Regenguss niederzugehen.
»Da haben wir ja gerade noch Glück gehabt«, bemerkte Stephan.
Lisbeth nickte. Ein Ellbogen stieß sie unsanft in die Seite.
»He!«, rief ein Mann neben
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