Die Tochter der Suendenheilerin
beiden Frauen und öffnete die Tür mit einem Ruck. »Die drei harmlosen Tropfen stören mich nicht.« Ein heftiger Windstoß blies ihm den Regen ins Gesicht und durchnässte seine Kleidung. »Siehst du Mutter? Ich lebe noch.« Er lachte. »Gott der Herr mag uns aus Lehm geschaffen haben, aber es scheint gebrannter Lehm zu sein.«
»Ich meinte nicht den Regen, sondern das Gewitter.« Lena riss ihrem Sohn den Türgriff aus der Hand und schloss die Tür. »Ich hätte kein gutes Gefühl, wenn du bei diesem Unwetter stundenlang durch den Wald läufst.«
»Das müsste er gar nicht«, warf Sibylla ein. »Am Fuß des Regensteins liegt eine verlassene Holzfällerhütte. Dort könnte Rudolf abwarten, bis das Schlimmste vorüber ist.«
»Wird er sie in der Dunkelheit finden?«
»Sie ist kaum zu verfehlen, wenn er sich immer geradeaus hält.«
»Redet bitte nicht über mich, als wäre ich nicht anwesend! Natürlich finde ich diese Hütte. Ich habe auch keine Angst vor Blitz und Donner. Ich bin kein kleiner Junge mehr, auch wenn ihr mich im Augenblick so behandelt.«
»Schon gut.« Lena strich ihm beschwichtigend über den Arm. »Sibylla, wo halten sich die Waffenknechte, die den Wehrgang bewachen, bei solch einem Unwetter für gewöhnlich auf? Gibt es Unterstände?«
»Nicht auf dem Wehrgang.«
»Dann haben sie vermutlich unter dem Wehrgang Schutz gesucht«, bemerkte Rudolf. »Wer wäre auch so dumm, bei diesem Wetter einen Angriff zu wagen?«
»Das klingt einleuchtend«, gab Lena zu. Auch wenn ihrem Sohn derzeit die rechte Einsichtsfähigkeit in Sinn oder Unsinn seiner Taten fehlte, so wusste Lena doch, dass er in mancher Hinsicht immer noch ein scharfer Beobachter war. »Was glaubst du? Würden sie bemerken, wenn wir das Manntor öffnen?«
Rudolf hob die Schultern. »Ich glaube nicht. Wer sollte sich um diese Zeit und bei diesem Wetter dort herumtreiben?«
Lena nickte. Auch das erschien ihr nachvollziehbar.
»Ihr beide müsst mich nicht begleiten, Mutter. Mich entdeckt schon niemand.«
»Das mag sein, aber das Tor muss von innen wieder verriegelt werden.«
»Ich komme mit«, sagte Sibylla. »Falls ich gesehen werde, wird sich niemand getrauen, mir Fragen zu stellen.«
»Seid Ihr Euch sicher, Fräulein Sibylla?«, fragte Lena zweifelnd.
»Ganz sicher, Frau Helena. Kein Waffenknecht hat von der Enkelin des Grafen Rechenschaft zu fordern. Sollte es dennoch einer wagen, beschwere ich mich bei meinem Vater über ihn.«
»Mir scheint, es herrschen strenge Sitten auf Burg Regenstein.«
»Müsste Eure Tochter sich vor jedem Waffenknecht rechtfertigen, Frau Helena?«
»Nein, Ihr habt recht, Sibylla. Nun gut, dann geht! Rudolf, pass gut auf dich auf!«
»Mach dir keine Sorgen, Mutter. Mir wird nichts widerfahren.« Er drückte sie einmal kurz an sich. Lena erwiderte seine Umarmung.
»Ach, Rudolf.«
»Kein Grund zum Aufgeben.« Er zwinkerte ihr übermütig zu. »Ich werde Vater berichten, welche Lügenmärchen Meinolf hier verbreitet. Er lässt dir gewiss eine Nachricht über Antonia zukommen. Ihr geht es ganz bestimmt gut.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.« Lena gab ihren Sohn frei und nickte Sibylla zu. Dann sah sie den beiden nach, wie sie in den Regen hinausliefen. Glücklicherweise musste sie nicht lange auf Sibyllas Rückkehr warten. Das Mädchen war völlig durchnässt, aber ihre Augen blitzten vergnügt.
»Er ist ohne Schwierigkeiten aus der Burg entkommen. Er hatte vollkommen recht – weit und breit war niemand zu sehen.«
Lena atmete erleichtert auf. »Dann kommt, Fräulein Sibylla! Nicht jeder muss sehen, dass Ihr bei diesem Wetter draußen wart.«
»Ja, es ist wohl besser, wenn ich mich gleich umkleide. Aber eines müsst Ihr mir versprechen, Frau Helena. Fragt meinen Großvater erst nach Rudolf, wenn ich dabei bin. Ich möchte so gern sein Gesicht sehen.«
»Es macht Euch nichts aus, Eurer Familie diesen Streich zu spielen?«
»Nein, nicht das Geringste. Ich habe eine Schwäche für Streiche.«
Sie lachte, und plötzlich wusste Lena, dass Sibylla die richtige Frau für Rudolf war.
Am nächsten Tag ließ Lena sich Zeit, nach Rudolf zu fragen. Sie wollte erst sicher sein, dass man sein Verschwinden bereits bemerkt hatte. So ließ sie das gemeinsame Frühgebet ungenutzt verstreichen. Erst am späten Vormittag bat sie Pater Hugo, sie zu einer Unterredung mit Graf Ulf zu begleiten, um ihn um Milde für ihren Sohn zu bitten.
»Sehr gern, Frau Helena. Bruder Pius berichtete mir bereits von dem« – er
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