Die Tochter der Wälder
wenn man die Kraft hatte. Ich griff nach der Stake, hoffte, das Boot in Sicherheit lenken zu können, denn das Wasser hier war vielleicht seichter. Aber es schien, als wäre mein Geist nicht imstande, meine Hände zu lenken, und die Stake entglitt mir, fiel über die Seite und trieb rasch außer Reichweite. Ich war zu schwach, um hinterherzuschwimmen, und konnte erst recht nicht daran denken, das Ufer zu erreichen. Wenn ich nicht ertrinken würde, würde mich die Kälte noch vor dem Morgen umbringen. Ich glühte vor Fieber und konnte die Kälte nicht spüren, aber die Heilerin in mir wusste, wie trügerisch diese Hitze war.
Die Sturmwolken rissen einen Augenblick lang auf, und der Mond erschien. Bleiches Licht breitete sich plötzlich über das wirbelnde Wasser aus. Auch am Strand war ein Licht, und einen Augenblick später rief eine Männerstimme: »He! Was ist das?« Und eine andere: »Da draußen – sieh nur! Da ist jemand drin! Ein Mädchen.« Eine Windbö blies mir das Haar über die Augen. Das Boot trieb wieder vom Ufer weg. Ich spähte zu dem kleinen Licht hin. Es waren zwei Männer, einer mit einer Art Laterne, und der andere zog sein Hemd aus und watete ins Wasser, dann schwamm er in den Sturm hinaus und auf mich zu. »Du bist verrückt!« rief ihm der andere nach. Er kam näher. Trotz Wind und Strömung kam er direkt und zielgerichtet auf mich zu. Er war ein großer, kräftiger Mann und bewegte sich mit grimmiger Entschlossenheit. Ich spannte mich erschrocken an, und plötzlich war der Gedanke, mich über die Seite des Bootes gleiten zu lassen, tief ins Wasser und aus dieser Welt zu sinken, das einzig Vernünftige. Ich umklammerte meine Tasche mit beiden Händen und stand unsicher auf. Der Wind erledigte den Rest und kippte das Boot um. Das Wasser schloss sich über meinem Kopf.
***
Einen Augenblick lang war die Kälte wie ein Segen und der Wunsch, alles zu vergessen, stark genug, um den Rest auszulöschen. Dann lechzten die Lungen nach Luft, und der Geist sagte, nein, noch nicht, und ich kam wieder an die Oberfläche, keuchend, würgend, schaudernd und verängstigt. Kam hoch, als er die letzten Züge auf mich zuschwamm und mich mit Armen wie Eisen um die Taille packte. Ich konnte nicht schreien, aber ich kämpfte gegen ihn an, kratzte und trat ihn mit meiner letzten Kraft. »Hör auf damit, dumme Kuh«, sagte er und legte mir eine große Hand auf den Mund, drehte mich auf den Rücken und zog mich zum Ufer. Ich biss ihn. Er fluchte, benützte ein Wort, das ich nur einmal zuvor gehört hatte, denn er sprach in der Sprache der Briten. Sein Griff lockerte sich lange genug, dass ich wieder unters Wasser gleiten konnte, und ich versuchte wegzuschwimmen, ihm irgendwie auszuweichen, aber meine Nase füllte sich mit Wasser, ich spürte es schmerzlich in meiner Brust, und dann packte er mein Haar, und ich wurde unweigerlich zum Ufer gezogen. Ich weinte, meine Nase lief, und ich war so verängstigt, dass ich mir diesmal wirklich wünschte, ertrunken zu sein.
Wir erreichten das Ufer, wo er mich über die Schulter warf wie eine Jagdbeute. »Narr!« meinte sein Begleiter. Die beiden gingen hinauf ins Gebüsch, weg vom Wasser. Ich bemerkte, dass er meine Tasche in der Hand hielt. Beide hatten Messer im Gürtel. Ich dachte daran, nach einem davon zu greifen, wenn sie mich absetzten. Bevor ich zuließ, dass sie mir etwas antaten, würde ich mich umbringen. Aus welch anderem Grund würden diese Männer mich retten wollen, als um meinen Körper zu benutzen und mich dann beiseite zu werfen? Was sonst konnten sie mit einem Mädchen wollen, halb verhungert, halb ertrunken? Aber das würde ich nicht zulassen, nicht diesmal.
Aber als wir die Zuflucht einer Felswand erreichten und ich sah, dass dort ein dritter Mann im Dunkeln auf sie wartete, hatte ich keine Kraft mehr, mich zu schützen, und blieb hilflos liegen, wo er mich hinlegte. Das Licht der Laterne war nur schwach, aber ich konnte sehen, dass sie Briten waren und gekleidet wie Männer, die rasch und leise durchs Land kommen wollen.
»Wir müssen ein Feuer entzünden.« Das war die Stimme meines Retters.
»Du bist verrückt«, sagte der andere, der mit der Laterne. »Was ist mit Rotbart und seinen Männern? Sie können nicht weit hinter uns sein.«
»Du hast ihn gehört. Entzünde ein Feuer.« Das war der dritte Mann, der ein wenig älter klang als die anderen. Ich wagte nicht, meine Augen weiter als einen Schlitz zu öffnen. »Ein kleines Feuer. Dieser Sturm
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