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Die Tochter der Wälder

Die Tochter der Wälder

Titel: Die Tochter der Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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voll zu einer Art Brühe, wenn ich die Kraft dazu aufbringen konnte. An manchen Tagen war es sogar zu anstrengend, mir das Haar zu kämmen. Ich wurde dünner und stellte fest, dass ich immer wieder unerwartet einschlief, nur um dann aus bösen Träumen aufzuschrecken. Während die Tage kürzer wurden, kam ich kaum mehr mit meiner Arbeit voran. Dann kam sie endlich. Lautlos wie eine Hirschkuh stand sie plötzlich im Schatten unter den grauen Stämmen der Eschen und betrachtete mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. An diesem Tag trug sie keinen mitternachtsblauen Umhang und hatte keine Juwelen im langen, dunklen Haar. Ihr Gewand war stattdessen schlicht geschnitten, der Stoff von einem moosigen Grün, und ihre Arme schimmerten bleich im durch die Bäume gefilterten Licht. Die Blätter und Zweige um sie rührten sich, und ich spürte den tiefen Herzschlag des Waldes, als würde er lebendiger, wo sie sich befand. Das letzte Mal hatte ich meinen Zorn und meine Angst an ihr ausgelassen. Nun spürte ich nur Leere.
    Du kommst zu spät.
    Ihre Miene war ungerührt. Wenn sie überhaupt einen Ausdruck hatte, dann den leichten Tadels.
    »Es ist Zeit, Sorcha«, sagte sie. »Zeit, weiterzuziehen.«
    Wohin weiterziehen? dachte ich. Alles fiel mir zu schwer, alles war eine zu große Anstrengung. Vielleicht würde ich einfach wieder nur in die Felsennische kriechen und die Augen schließen.
    Ich habe genug davon, stark zu sein.
    Sie lachte mich aus. Lachte, als wäre ich etwas Lächerliches.
    »Du bist, was du bist«, sagte sie mit dieser tiefen, wohlklingenden Stimme. »Und jetzt komm und steh auf. Du bist nicht die erste Frau deines Volkes, die auf solche Weise von Männern missbraucht wird, noch wirst du die letzte sein. Wir haben voller Kummer gesehen, was man dir angetan hat; aber die Rache war schnell. Aber jetzt musst du von hier weg.«
    Ein kleiner Keim des Zorns saß in mir und kämpfte gegen die tiefe Müdigkeit an, die meinen Kopf wirr und all meine Glieder schwer und schmerzend machte. Ich stand auf, und die Bäume schienen zu schaudern und sich um mich herum zu bewegen.
    »Gut«, sagte sie leise. »Jetzt wirst du von hier weggehen. Du darfst nur eine Tasche mitnehmen. Wähle den Inhalt sorgfältig. Du wirst unter den Weiden nicht weit vom nördlichen Ende der Bucht ein kleines Boot finden. Es wird dich dahin tragen, wohin du gehen musst.«
    Ich sah sie blinzelnd an. Die Bäume schienen in alle Richtungen zu schwanken, das Licht des Spätnachmittags flackerte zwischen ihren Blättern, grau, grün, golden, rotbraun und braun. Ihre Gestalt begann bereits zu verblassen.
    Aber was, wenn … aber ich kann doch nicht  … und wohin …
    Sie war nicht mehr da. Ich stand still, strengte mich an, endlich klarer zu sehen. Langsam kam die Welt um mich mehr oder weniger zum Stillstand. Ich dachte vage, dass ich vielleicht seit gestern nichts mehr gegessen hatte. Vielleicht war das das Problem. Außerdem, wenn ich nur eine einzige Tasche mitnehmen konnte, würde ich sie bestimmt nicht mit trockenen Äpfeln oder Wasserkresse füllen.
    Wenn das Feenvolk einem eine Anweisung gab, folgte man, ob einem das passte oder nicht. So war es einfach. Wenn man genauer hinsah, hatte ich keine große Wahl. Ich war nicht auf den Winter vorbereitet, und meine Brüder hätten dieses Mal mehr zu tun gehabt, als für mich Holz zu hacken oder Vorräte zu beschaffen. Also ließ ich meinen Eichenstock, der einmal Vater Brien gehört hatte, und die Winterstiefel und den warmen Umhang und die drei scharfen Messer zurück. Ich ließ den Haufen glatter Seesteine zurück, unter denen mein Hund lag, und das letzte Bündel getrockneten Lavendels, in dessen süßem, schwachem Duft noch die Wärme des Sommers hing, und den zur Neige gehenden Vorrat an Eschenholz. Ich ließ sogar die Spindeln und meinen kleinen Webrahmen, den mein Bruder für mich gemacht hatte, zurück. Aber ich nahm die beiden ersten Hemden und das dritte halbgenähte mit, ebenso wie die Fasern, die ich noch nicht gesponnen hatte, und meine Nadel und meinen Faden, und ganz unten in der Tasche war Simons Schnitzerei. Ich trug mein altes Kleid und um den Hals Finbars Amulett, das einmal unserer Mutter gehört hatte. Ich ging von der Höhle weg, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Aber ich hörte leise Stimmen, das Rauschen der Blätter und das Flattern zarter Flügel in den Baumwipfeln.
    Sorcha, o Sorcha. Lebe wohl, lebe wohl.
    Der Klang folgte mir am Ufer entlang, als ich

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