Die Tochter der Wälder
schliefen weiter. Sein Griff ließ nicht nach; er wusste, wie er den geringsten Druck einsetzten musste, um den meisten Schmerz zu verursachen, das war sicher. Er zog mich dichter an sich, dichter, als mir lieb war, und ich konnte seinen Schweiß und seinen Zorn riechen und seinen Atem auf meinem Gesicht spüren und die Kälte in seinem Blick sehen. Seine Kraft und Schnelligkeit erschreckten mich – wie hatte ich je glauben können, dass mir die Flucht gelingen würde? Das Fieber musste mich tatsächlich verblödet haben. Aber ich war auch wütend. Was war das für ein Spiel? Wieso sollte ich jetzt hier bleiben, wenn sie rasch und unbehindert davonkommen müssen?
Er hatte sich kaum von der Stelle, wo er saß, wegbewegt, nur, um nach meinem Arm zu greifen und mich zu sich zu ziehen. Seine Finger gruben sich in mein Fleisch. Er hatte große Hände. Ich konnte ein schmerzerfülltes Aufkeuchen nicht ganz unterdrücken, und sein Griff lockerte sich, aber nicht viel.
»Verflucht sollst du sein«, sagte er immer noch mit dieser leisen Stimme. »Drei Monde und länger bin ich in diesem gottverlassenen Land und suche nach Antworten. Ich bin zu den seltsamsten Orten auf Erden gereist; ich habe jede Spur verfolgt, ich habe jeden elenden Stein umgedreht, ich habe das Leben meiner Freunde aufs Spiel gesetzt. Und wofür? Hunger und Kälte und ein Messer im Dunkeln. Auf dieser Insel hier gibt es keine Wahrheit. Genauer gesagt, es gibt so viele Wahrheiten wie Sterne am Himmel, und jede von ihnen ist anders.«
Ich starrte ihn an. Was immer ich von ihm erwartet hatte, das war es nicht.
»Ich könnte schwören, dass du mich verstehst«, sagte er und sah mir direkt in die Augen, »und dennoch, wie wäre das möglich?«
Was hatte Conor noch über mich und Finbar gesagt? Die beiden sind wie offene Bücher … ihre Gedanken flammen wie ein Leuchtfeuer aus ihren Augen … Ich hoffte, dass dieser Brite mich nicht so gut lesen konnte. Es wurde langsam hell; ich hörte, wie seine Begleiter sich rührten.
»Du willst gehen«, sagte er. »Wohin, kann ich mir nicht vorstellen; aber ich nehme an, du hast hier irgendwo ein Schlupfloch. Vielleicht, um dich darin zu verstecken, bis deine Landsleute kommen; vielleicht glaubst du, du kannst zusehen, wie sie uns in Stücke hacken. Ich habe dich nicht als Feind betrachtet, nicht, als ich dich vor dem Ertrinken rettete. Vielleicht bist du wirklich so unschuldig, wie meine Freunde glauben; zu einfältig, um gefährlich zu sein.«
Ich versuchte, ihm meinen Arm zu entziehen. »Nein«, sagte er tonlos. »Drei Monde ohne Antwort, und jetzt, am letzten Tag, am allerletzten, finde ich den ersten Hinweis. Und wer kann mir das erklären? Ein Mädchen, das nicht sprechen kann oder will. Siehst du das da?« Er griff in die Tasche, und zum ersten Mal schlich sich ein Unterton in seine Stimme, der anders als ruhig und gleichgültig war. »Sag mir, wo du das her hast.«
Und da war sie. Simons kleine Schnitzerei, die kleine Eiche in ihrem schützenden Kreis mit den Wellenlinien, die vielleicht Wasser waren, vielleicht auch nicht. Nichts Interessantes in meiner Tasche, hatte er seinen Freunden gesagt. Nicht viel. Das war seltsam genug; man hätte annehmen können, die stachligen Hemden wären eine Bemerkung wert. Aber es war dieser Gegenstand, der ihn aufmerksam gemacht hatte. »Sag es mir«, forderte er. »Wer hat dir das gegeben?«
Und jetzt machte er mir wirklich Angst. Ich zwang mich dazu, eine ausdruckslose Miene aufzusetzen. Dachte an nichts. Ließ ihn nichts wissen. Es war gut, dass ich ohnehin zu schweigen geschworen hatte. Ich war keine Lügnerin; aber wie hätte sich wohl die Wahrheit angehört? Ich habe es von einem anderen deiner Art. Er wurde von den Leuten meines Vaters gefoltert und ist beinahe daran gestorben. Er war dem Tod nahe und dem Wahnsinn noch näher. Wir haben ihn gerettet, ich habe versucht, ihm zu helfen, es ging ihm schon besser, und dann … und dann habe ich ihn allein gelassen, als er mich am meisten brauchte. Er ging in den Wald hinaus, wo er wahrscheinlich nicht überlebt hat. Noch während wir hier sitzen, überziehen Moose seine weißen Knochen ein wenig mehr, irgendwo unter den riesigen Eichen. Vögel zupfen an seinem goldenen Haar, um ihre Nester zu polstern, und seine leeren Augen starren auf ewig zu den Sternen hinauf.
»Verdammt sollst du sein«, sagte der Brite erneut, »wieso willst du nicht sprechen? Ich will eine Antwort von dir, bevor ich dich gehen lasse.« Und
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