Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Wälder

Die Tochter der Wälder

Titel: Die Tochter der Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
Vom Netzwerk:
Seine Mutter sah mir direkt in die Augen. Ihr Gesicht war unter ihrem zarten Schleier rund und weich; sie hatte ein Netz feiner Falten um Augen und Mund. Kleine Locken waren dem Kopfputz entkommen und schimmerten in verblichenem Gold. Einstmals hatte ihr Haar dieselbe Farbe gehabt wie das ihrer Söhne; und ihre Augen waren vom selben Blau. Ich las Schrecken in ihrer Miene, Angst und so etwas wie Ekel. Sie sagte kein Wort. Der Rote ließ mein Handgelenk los.
    »Es tut mir Leid«, sagte er. »Ich hoffte, ihn heimbringen zu können. Selbst nach so langer Zeit hielt ich es noch für möglich. Wie du siehst, habe ich ihn nicht gefunden. Und ich habe keine Neuigkeiten für dich. Es tut mir Leid, dass ich nicht … dass ich …«
    »Ich habe gelernt, auf nichts zu hoffen«, sagte seine Mutter, und sie blinzelte die Tränen weg. Sollte sie weinen müssen, dann würde sie das später tun, wenn sie ganz alleine war. »Du bist wieder zu Hause. Dafür müssen wir dankbar sein.«
    »Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst«, sagte der Rote. »Es ist tatsächlich ein seltsames Land und voller Geschichten von genau solchen Geschehnissen. Das ist natürlich alles Unsinn. Aber wir waren dicht an jenem Ort, an dem so viele von Richards Leuten umgekommen sind. Dass er einmal dort war, ist nicht zu bezweifeln. Aber es gibt kein Zeichen, keine Spur, dass Simon bei ihnen war. Wir haben gesprochen, mit wem wir sprechen konnten. Niemand wusste von Gefangenen, von Flüchtlingen oder Geiseln. Ich komme mit leeren Händen zurück, Mutter. Es tut mir Leid um den Kummer, den meine Abwesenheit dir gemacht hat; es tut mir Leid, dass ich dir keine Antwort geben kann.«
    »Ich gestehe, dass ich gewisse Hoffnungen hatte«, erklärte sie. »Nicht, dass er nach Hause zurückkehren würde, nicht nach so langer Zeit. Aber irgendetwas hatte ich erwartet, ein kleines Zeichen, das mir sagt, ob er lebt oder tot ist. Ein Ende dieses schrecklichen Wartens.«
    »Es gab nichts dergleichen«, sagte der Rote schließlich. »Überhaupt nichts.«
    Ich bemerkte, dass ich den Atem angehalten hatte, und atmete schnell aus, aber noch war ich nicht in Sicherheit.
    »Es scheint, als wärest du nicht ganz mit leeren Händen zurückgekehrt«, sagte seine Mutter und sah mich von Kopf bis Fuß an, als inspizierte sie ein Stück Fleisch für den Tisch, das sie nicht so recht zufrieden stellte. Ich erwiderte den Blick ungerührt. Ich schämte mich nicht dafür, Lord Colums Tochter zu sein, trotz allem, was er getan hatte. Mein Volk war alt, viel älter als das ihre, und ich war die Tochter des Waldes.
    »Wie kannst du eine von – eine von ihnen in unser Haus bringen? Wie kannst du es ertragen, auch nur in ihrer Nähe zu sein? Diese Leute haben deinen Bruder geholt; sie haben Richards Männer auf barbarischste Weise getötet. Sie sind nicht nur seltsam; an ihnen ist nichts Gutes mehr. Wie kannst du sie in mein Haus bringen?« Ihre Stimme bebte vor Gefühlen. Jetzt geht es los, dachte ich. Jetzt sagt er ihr, dass ich die einzige Verbindung zu ihrem jüngeren Sohn darstelle. Jetzt will sie sofort wissen, was ich weiß, alles, was sie davon überzeugen könnte, dass ihr Junge noch lebt. Und dann werden sie versuchen, mich zum Reden zu bringen, auf jede mögliche Weise. Wie kann er das seiner eigenen Mutter verweigern? Dabei verstand ich genau, wie sie empfand.
    Der Rote stand auf, stellte sich hinter mich, und ich spürte seine großen Hände auf meinen Schultern.
    »Sie heißt Jenny«, sagte er. »Sie ist hier in meinem Haushalt als mein Gast, solange es ihr gefällt. Das mag eine ganze Weile dauern. Und sie wird mit Respekt behandelt werden. Von jedem.« Seine Mutter starrte ihn an, den Mund leicht geöffnet. Meine Miene muss ein Spiegelbild der ihren gewesen sein, denn das hätte ich nicht erwartet. Eine Arbeit in der Küche vielleicht, Töpfe schrubben, das war das Beste, worauf ich gehofft hatte. »Ich wollte dich nicht beleidigen, Mutter. Ich sage dir nur, wie es sein wird.« Er hob die Stimme gerade genug, um dafür zu sorgen, dass alle Anwesenden ihn hörten. »Diese junge Frau ist in meinem Haus willkommen. Sie wird als Mitglied meines Haushalts betrachtet werden. Ihr werdet ihr die Freundlichkeit und Gastfreundschaft anbieten, die jedem meiner Gäste zusteht. Ich sage Euch das nur ein einziges Mal.« Es lag eine Spur von Drohung in diesen letzten Worten, aber es brauchte nicht mehr. Tödliches Schweigen senkte sich über den Raum.
    Der Diener erschien mit Wein.

Weitere Kostenlose Bücher