Die Tochter der Wälder
unter deinen Bäumen sein, spüren, wie dein Fluss über meine bloßen Füße fließt, auf deinen Feldern liegen und zusehen, wie die Wolken über mich hinwegziehen. Lass mich zumindest irgendwo allein sein. Denn in deinem Haus kann ich die Luft nicht fühlen und das Feuer nicht spüren. Ich kann die Erde nicht riechen und das Wasser nicht hören. Ich werde nicht weglaufen; ich kann es nicht, denn ohne deinen Schutz kann ich meine Aufgabe nicht fortsetzen.
»Es ist nicht leicht für dich, nicht wahr?« meinte er. »Du könntest dich selbstverständlich entschließen, mit mir zu sprechen. Das wäre hilfreich. Aber ich sehe dir an, dass du das nicht tun wirst.«
Ich kann es nicht.
»Sag mir eins«, bat er und betrachtete mich forschend. »Wenn du wolltest, könntest du jetzt mit mir sprechen? Könntest du von meinem Bruder erzählen, und was aus ihm geworden ist?«
Ich habe nie lügen können. Ich nickte elend und wollte nicht, dass er weiter davon sprach.
»Warum sagst du es mir dann nicht?« fragte er leise. »Dann würde ich dich gehen lassen. Was immer mit Simon geschehen ist, es kann nicht deine Schuld sein. Du bist nur ein Kind. Ich würde dich gehen lassen. Aber erst muss ich es wissen. Wenn er tot ist, kann ich es meiner Mutter sagen, und so kann sein Schatten endlich zur Ruhe gebettet werden, und die Sache hat zumindest ein Ende. Das hier ist nicht meine Fehde, und ich werde sie nicht weiterverfolgen. Ich habe nicht den Wunsch, Blut mit Blut zu vergelten. Wenn er noch lebt, können wir ihn finden. Würdest du es nicht auch wissen wollen, wenn er dein eigener Bruder wäre?«
Ich nickte und wandte mich dann abrupt ab, damit er mein Gesicht nicht sehen konnte. Wir schwiegen beide lange. Ich hatte nicht das Gefühl, nicht weitergehen zu können; aber seine Worte hatten mir tiefes Unbehagen verursacht. Ich verstand nicht, warum er mich fragte, warum er das, was er von mir wusste, für sich behalten und weder seiner Mutter noch seinen engsten Freunden erzählt hatte. Vielleicht, dachte ich, hat das Feenvolk in jener Nacht wirklich einen Bann auf ihn gelegt. Vielleicht hat man ihn herbeigerufen, um mich zu beschützen, während ich meine Aufgabe vollende, und so handelt er gegen seinen Willen. Wenn das nicht wäre, würde er mich zweifellos dazu zwingen, ihm alles zu sagen. Warum sollte er freundlich, warum geduldig sein? Als ich ihn wieder ansah, hatte er das Buch geschlossen und Feder und Tinte beiseite gelegt.
»Ich sollte dieses Bein bewegen«, sagte er und stand auf. »Komm mit, ich will dir etwas zeigen.« Er hinkte immer noch, und daher gelang es mir, trotz seiner langen Beine mit ihm Schritt zu halten. Wir folgten dem Pfad einen Hügel hinauf unter jungen Eichen, die immer noch ihre rötlich verfärbten Blätter hatten. Alys kam hinterher.
»Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als mein Vater diese Bäume pflanzte«, sagte er. »Er hatte große Hochachtung vor Bäumen. Wenn man einen fällte, musste man einen pflanzen. Eine Eiche braucht ein ganzes Leben, um zu wachsen. Wie schon sein Vater vor ihm, hat er weit in die Zukunft gesehen.« Der Weg ging weiter nach oben, und die Bäume erstreckten sich in ordentlichen Reihen auf beiden Seiten. Alys wurde müde und blieb zurück, und wir warteten, bis sie uns eingeholt hatte. Sie war zu alt, um weiterzugehen, weigerte sich aber, sich tragen zu lassen. Am Ende überzeugte ich sie mit Gesten und Mienen, dass sie hier auf mich warten sollte, und sie ließ sich mürrisch im Laub am Wegesrand nieder. Ihr Blick folgte uns tadelnd, als wir weiterkletterten. Es hing eine frische Morgenbrise in der Luft; als ich zurückblickte, sah ich die ersten Rauchfahnen frisch entzündeter Feuer über Häusern und Hütten. Die Menschen erwachten.
Wir erreichten die Hügelkuppe, wo ein einzelner großer Stein, überwachsen von Kletterpflanzen, stand. Von hier aus konnte man weit sehen; wieder bemerkte ich, wie ordentlich dieses Land war, wie sauber und gepflegt und – nun, wie richtig, das war die einzige Art, wie ich es ausdrücken konnte. Kein Wunder, dass alle überrascht gewesen waren, als der Rote mich mitbrachte. Das war kein Teil dieses ordentlichen Musters gewesen. Der Fluss wand sich träge durchs Tal; von hier oben konnte man das gewaltige Ausmaß der Ländereien erkennen, die breiten Stoppelfelder mit ihren ordentlichen Strohhaufen, das Weideland, wo hier und da Tiere grasten, die Mühlen und Scheunen und die weiß gekalkten Bauernhäuser unter den Bäumen. So
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