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Die Tochter der Wälder

Die Tochter der Wälder

Titel: Die Tochter der Wälder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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durch, wo er lag, fast zerdrückt von einem riesigen Felsen, der ihn von der Brust bis zu den Füßen bedeckte. Er atmete immer noch und war immer noch bei Bewusstsein, denn ein schmales Dreieck aufeinander balancierender Steine hatte ihm ein wenig Luft gelassen. Wir konnten nichts mehr wegbewegen; es gab keine Möglichkeit, ihn zu befreien.
    Ich schickte den Mann weg, Hilfe zu holen. Es gab kein Zeichen von dem anderen, und niemand hätte sagen können, wo er unter diesen Steinen lag. Die Pferde waren weiter unten angepflockt, an den Bäumen. Es würde nicht lange dauern, nach Harrowfield zu reiten, Männer, Seile und Tiere zu holen. Nicht so lange. Aber zu lange für John.
    Ich saß reglos auf den Steinen, denn eine falsche Bewegung hätte noch mehr einstürzen lassen oder bewirken können, dass das Gewicht sich schwerer auf seinen Körper niederließ. Johns Gesicht unter dem Erdstaub war grau, und ein kleines, stetiges Blutrinnsal lief über seine Wange und bildete auf dem Felsen unter seinem Kopf eine Lache. Ich lauschte seinem Atem, spürte das Gewicht der Felsen auf meiner eigenen Brust. Ich weinte nicht, denn dies war zu schrecklich für Tränen.
    »Jenny …«, versuchte er zu sprechen. Ich gestikulierte. Nein, nicht reden. Atmen. Nur atmen.
    »Nein«, brachte er hervor, und in seinen Augen hing bereits der Schatten des Lebewohls. »Sag … sag …«
    Jedes Wort brauchte einen Atemzug. Jeder Atemzug sprach vom Schmerz dieses erdrückenden Gewichts, des Felsens, der langsam das Leben aus ihm herausdrückte. »Der Rote«, sagte er. »Richtig … richtige Wahl … richtig … du … sag ja.« Einen Augenblick lang schloss er die Augen, und als er sie wieder aufzwang, mit einem schaudernden, rasselnden Atemzug, sah ich, wie der Tod die stetige Ehrlichkeit seines Blicks umwölkte. Er blutete nun auch aus der Nase, leuchtend rote Tropfen, die zu einem kleinen Fluss wurden. Er versuchte sich zu räuspern, aber es ging nicht; stattdessen gab er ein schreckliches Geräusch von sich, ein grausiges, herzzerreißendes Geräusch. Ich hielt seine Hand, strich ihm über die Stirn, sehnte mich danach, sprechen zu dürfen. Es ist schrecklich, Heilerin zu sein und zu wissen, dass es nichts gibt, was man tun kann.
    »Sag«, keuchte er. »Sag ihr …«, und dann krampfte er sich zusammen und hustete sein Lebensblut über die Steine und starb, ohne zu Ende bringen zu können, was er zu sagen hatte. Aber ich wusste es ohnehin.
    Es dauerte nicht lange, bis die Hilfe kam, und dennoch war es eine Ewigkeit, in der ich spürte, wie Johns Hand immer kälter wurde, wie sein Blut über die Steine lief und in kleinen Pfützen gerann. Rings um mich her war kein Geräusch außer dem Singen der Vögel und dem Rascheln einer Frühlingsbrise in den Birken zu hören. Meine Stimme schwieg, aber mein Geist schrie laut heraus: Warum? Warum er? Er war ein guter Mensch, die Leute liebten ihn. Er war vollkommen unschuldig. Warum er?
    Ich war so lange allein gewesen, abgeschnitten von jedem Wissen der Geisterwelt, dass ich nicht mehr wusste, ob die leise Stimme, die mir in meinem Kopf antwortete, meine eigene oder die eines anderen Wesens war.
    So geht es nicht, Sorcha. Du wusstest, dass es schwer sein würde. Jetzt findest du heraus, wie schwer.
    Aber warum John? Er war glücklich – warum ihm einen Sohn geben und dann dem Sohn den Vater nehmen?
    Ein Lachen. Nicht grausam, nur verständnislos. Wäre es dir lieber, wenn ein anderer geholt worden wäre? Das Kind vielleicht, oder er mit dem feurigen Haar und den kalten Augen? Möchtest du die Geschichte umschreiben?
    Ich verstopfte mir die Ohren und schloss die Augen, aber die Stimme in meinem Kopf sprach weiter. Das Feuer im Kopf. Es tat tatsächlich weh.
    Wie stark bist du, Sorcha? Wie viele Abschiede kannst du ertragen, bevor du laut weinen musst? Dann wieder das Lachen. Ich weiß nicht, ob ich zu guten oder schlechten Geschöpfen sprach oder einfach zur verwirrten Stimme meines eigenen Geistes. Ich werde nicht zuhören. Ich will das nicht hören. Lautlos rezitierte ich die Namen meiner Brüder, wieder und wieder, um die Dämonen fern zu halten. Liam, Diarmid, Cormack, Conor, Finbar, Padraic. Ich brauche euch hier. Ich brauche euch. Ich werde euch zurückholen. Das werde ich tun.
    Dann kam Hilfe. Mit bleichem Gesicht und tödlichem Schweigen überwachten der Rote und Ben die verzweifelt langsame Entfernung von Felsen und Erde, das Ausgraben der Leiche ihres Freundes. Pferde schleppten

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