Die Tochter der Wanderhure
Aber ihre Stimme zitterte verräterisch. Sie war nicht gewohnt zu lügen und hatte in der letzten Stunde mehr Märchen erzählt als sonst in einem halben Jahr.
Zu ihrem Glück bemerkte Mariele es nicht. »Dann ist es gut. Ich werde gleich mit meinem Mann reden. Währenddessen solltest du dich hinlegen und ausruhen, denn du siehst erschöpft aus.« Marieles Blick drang nicht tief genug, um in das Herz ihrer jüngeren Freundin blicken zu können. Ihre Mutter, die Ziegenbäuerin, oder Alika hätten sich von Trudi nicht täuschen lassen. Mariele aber kannte das Mädchen nicht so gut, denn sie hatte es in den letzten Jahren nur gesehen, wenn sie ihre Familie besucht hatte oder Marie mit ihren Töchtern zu ihr nach Schweinfurt gekommen war. Daher misstraute sie Trudis Worten nicht, sondern war entschlossen, die Wallfahrt so gut wie möglich vorzubereiten.
Sie bat ihre Freundin, sie nun zu entschuldigen. »Sonst ist Anton weg. Er wollte Geschäftsfreunde aufsuchen.«
»Danke! Du bist so lieb!« Trudi umarmte Mariele unter Tränen, die eher ihrer eigenen Verlogenheit galten, und huschte eilig davon.
Mariele sah ihr lächelnd nach und sagte sich, dass das Mädchen noch derselbe Wildfang war wie früher. Dann gab sie einer ihrer Mägde ein paar Anweisungen und ging zum Kontor ihres Mannes hinüber.
Anton Tessler rechnete gerade den Gewinn des letzten Handelsgeschäftsaus, als seine Frau in den Raum trat. Ohne aufzublicken, addierte er die Zahlenkolonnen und trug das Ergebnis pedantisch genau in sein Rechnungsbuch. Dann schob er es zu ihr hin, so dass sie hineinblicken konnte, und nickte zufrieden.
»So lasse ich es mir gefallen. Du wirst dir die pelzgesäumte Haube, die dir letztens so gefallen hat, unbesorgt machen lassen können, meine Liebe!«
»Woher wusstest du, dass ich hereingekommen bin? Es hätte ja auch eine Magd oder einer deiner Geschäftsfreunde sein können«, rief Mariele verwundert.
Ihr Mann betrachtete sie mit einem liebevollen Blick. »Ich habe dich an deinen Schritten erkannt, meine Liebe. Außerdem würden eine Magd oder ein Freund nicht hereinkommen, ohne angeklopft zu haben. Das machst nur du.« Anton Tessler stand auf, trat neben seine Frau und hauchte einen Kuss auf ihre Wange. Dabei streichelte er mit seiner Rechten zart ihren Leib.
Bei dem Gedanken, dass sie ihn zum dritten Mal Vater werden ließ, durchströmte ihn ein Gefühl des Glücks, welches das des gelungenen Geschäfts bei weitem übertraf. Als er um Mariele geworben hatte, war er bereits Witwer gewesen, und er hatte sie vor allem deswegen gewählt, weil sie aus einer gesunden, kräftigen Familie stammte und zudem das Patenkind des Reichsritters auf Kibitzstein war.
Sein erstes Weib hatten seine Eltern für ihn ausgesucht, und zwar aus der Familie eines anderen Schweinfurter Patriziers, mit dem sie verwandt gewesen waren. Als sie endlich schwanger geworden war, hatte sie das Kind nicht lebend zur Welt bringen können und war bei der Geburt gestorben. Ein Freund von ihm, der für seine Pferdezucht berühmt war, hatte dieses Unglück auf die nahe Verwandtschaft geschoben und ihm geraten, sich eine Frau aus einer anderen Stadt zu suchen.
Kurz darauf hatte er Mariele gesehen, die Marie Adlerin auf Kibitzstein nach Schweinfurt begleitet hatte, und war von ihrerblühenden Erscheinung beeindruckt gewesen. Doch mittlerweile war sie weit mehr für ihn geworden als nur die Mutter gesunder Kinder. Er küsste Mariele erneut und zog sie so an sich, dass ihr Rücken an seiner Brust ruhte. Seine Arme umschlangen dabei ihren Bauch, ohne ihn ganz umfassen zu können.
»Du bist mein großes Glück!«
»Obwohl ich, ohne anzuklopfen, überall hereinplatze«, spöttelte Mariele.
»Vielleicht gerade deswegen. Aber jetzt sag, was hast du auf dem Herzen? Es steht auf deiner Nasenspitze, dass du nicht nur mit einem Kind, sondern auch mit Gedanken schwanger gehst.«
»Es geht um Trudi. Sie hat geschworen, eine Wallfahrt zu machen, um für ihren Vater zu beten. Aber ich kann sie doch nicht allein mit einer Magd und einem jungen Knecht losziehen lassen.«
»Vielleicht sollten wir einen Boten nach Kibitzstein senden, damit Frau Marie einige ihrer Waffenknechte schicken kann«, schlug Anton Tessler vor.
Mariele streichelte die Hände ihres Mannes. »Daran habe ich auch schon gedacht. Aber es ist spät im Jahr und würde zu lange dauern, bis der Bote die Männer hierhergebracht hat. Zudem benötigt Frau Marie all ihre Leute, falls es heuer noch zur Fehde
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