Die Tochter des Fotografen
will es gar nicht so genau wissen.«
Schweigend saß sie da und schaute den Autos auf der Schnellstraße hinterher.
»Er wollte sie nicht«, sagte sie und rief sich den düsteren Flur des Heims ins Gedächtnis, die Frau, die auf dem Bett saß, deren gerade geschorene Haare auf den Boden herabfielen. Es war kalt gewesen, hatte nach gedünstetem Gemüse und Reinigungsmittel gerochen, und der Schnee hatte sich bis zum Horizont erstreckt. »Er hatte vor, sie in eine Anstalt zu stecken, in ein Heim. Er bat mich darum, sie dorthin zu bringen, und ich tat, was er sagte. Aber ich konnte sie nicht einfach dort lassen. Dieser Ort, Al. Dieser Ort war so fürchterlich.«
Al schwieg einen Moment. »Ich habe so etwas schon öfter gehört«, sagte er schließlich. »Ich höre diese Geschichten, |306| wenn ich unterwegs bin. Du warst tapfer, Caroline. Du hast die richtige Entscheidung getroffen. Allein die Vorstellung, daß Phoebe an einem solchen Ort hätte aufwachsen können, ist furchtbar.«
Caroline nickte mit Tränen in den Augen. »Es tut mir so leid, Al. Ich hätte es dir damals sofort erzählen müssen.«
»Caroline – es ist schon gut. Vergessen wir das Ganze.«
»Was soll ich nun tun?« fragte sie. »Ich meine, mit dem Brief. Soll ich ihm antworten? Ihm erlauben, sie zu sehen? Ich weiß es einfach nicht, die ganze Woche tue ich schon kein Auge zu. Was ist, wenn er sie uns einfach wegnimmt?«
»Ich weiß nicht, was ich dir raten soll«, sagte Al langsam. »Es ist nicht meine Entscheidung.«
Sie nickte. Dies war allzu verständlich. Die logische Konsequenz daraus, daß sie es nie erzählt hatte.
»Aber ich unterstütze dich«, fügte er hinzu und nahm ihre Hand. »Geh nach deinem Gefühl, dann machst du alles richtig. Ich werde dich und Phoebe hundertprozentig unterstützen.«
»Ich danke dir. Ich hatte so eine Angst.«
»Du zerbrichst dir den Kopf über die falschen Sachen, Caroline.«
»Es ändert also nichts an unserer Beziehung?« fragte sie. »Daß ich es dir nicht früher erzählt habe?«
»Nicht im geringsten«, sagte er.
»Dann ist es gut.«
»Okay.« Er stand auf und streckte sich. »Ein langer Tag. Kommst du mit hoch?«
»In einer Minute, ja.«
Es fing an zu regnen; zunächst sanft, dann trommelte es aufs Dach. Caroline verschloß das Haus, das nun ihr Haus war. Als sie die Treppe hinaufgegangen war, blieb sie kurz stehen und ging in Phoebes Zimmer. Ihr Körper war feucht und warm; sie schlief unruhig, ihr Mund formte unausgesprochene Worte. Dann versank sie wieder in ihre Träume. |307| »Mein süßes Mädchen«, flüsterte Caroline und deckte sie zu. Eine Weile stand sie da, der Raum ließ den prasselnden Regen widerhallen, und sie war bewegt von Phoebes kleinem Körper, von der Aussichtslosigkeit, ihre Tochter in dieser Welt vor allem zu beschützen. Dann ging sie in ihr eigenes Zimmer und schlüpfte unter die kühle Bettwäsche an Als Seite. Sie dachte an seine Hände auf ihrer Haut, an seinen Bart in ihrem Nacken und ihre eigenen Schreie in der Dunkelheit. Er war ihr ein guter Ehemann und Phoebe ein guter Vater. Er war ein Mann, der montagmorgens aufstand, duschte, sich anzog, eine Woche lang mit seinem Truck verschwand und ihr das Vertrauen schenkte, in Sachen David Henry und dessen Brief das zu tun, was sie für richtig hielt. Caroline lag noch lange wach und lauschte dem Regen, während ihre Hand auf seiner Brust ruhte.
Im Morgengrauen wachte sie auf. Al polterte die Treppe hinunter, weil er seinen Sattelschlepper in der Frühe noch einem Ölwechsel unterziehen wollte. Von der Dachrinne und den Abflußrohren plätscherte der Regen, sammelte sich in kleinen Sturzbächen und rann den Hang hinab. Caroline ging nach unten und kochte Kaffee. Sie war so sehr in Gedanken versunken, daß sie Phoebe erst hörte, als diese gleich hinter ihr in der Tür stand.
»Regen«, sagte Phoebe. Den Morgenmantel hatte sie nur locker umgelegt. »Wie aus Eimern.«
»Ja«, sagte Caroline. Irgendwann einmal hatte sie Stunden damit zugebracht, Phoebe diese Redewendung beizubringen, hatte ein großes Bild gemalt, auf dem zornige Wolken den Regen aus Eimern herabschütteten. Es war eines von Phoebes Lieblingsbildern. »Wohl eher aus Kübeln heute.«
»Aus Fässern«, sagte Phoebe. »Aus riesigen Fässern.«
»Willst du eine Scheibe Toast?«
»Eine Katze haben«, sagte Phoebe.
»Was möchtest du?« fragte Caroline. »Bitte sprich mit mir in ganzen Sätzen!«
|308| »Ich will eine Katze haben, bitte«, sagte
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