Die Tochter des Fotografen
David war dorthin gefahren, hatte in der Straße geparkt und die Treppe hinaufgehen und an die Tür klopfen wollen. Seine Absicht war es gewesen, Norah darüber aufzuklären, was passiert war, und das konnte er nur tun, wenn er wußte, wo Phoebe lebte. Norah würde ihre gemeinsame Tochter sehen wollen, dessen war er sicher, und so war es nicht nur sein eigenes oder Norahs und Pauls Leben, in die er eingreifen würde. Er war nach Pittsburgh gereist, um Caroline darüber aufzuklären, was ihm durch den Kopf ging, was er sich erhoffte, tun zu können.
Er saß im Wagen, es dämmerte, und die Scheinwerfer spiegelten sich in den Ahornblättern. Phoebe war hier aufgewachsen. Die Straße war ihr so vertraut, daß sie sie sowenig wahrnahm wie das Rauschen des Verkehrs, den aufgeplatzten Bürgersteig, der durch die Baumwurzeln nach oben gedrängt wurde, oder das Warnschild, das kaum merklich im Wind zitterte – all diese Dinge mußten für seine Tochter Heimat bedeuten. Ein Paar schob einen Kinderwagen vorbei, dann ging das Licht in Carolines Wohnzimmer an. David stieg aus dem Wagen, stellte sich an die Bushaltestelle und versuchte sogar, sich unauffällig zu benehmen, als er über den dunklen Rasen hinweg ins Fenster blickte. Drinnen sah man im erleuchteten Quadrat Caroline hin und her laufen und aufräumen, sie suchte die Zeitungen zusammen und faltete ein Bettuch. Sie trug eine Schürze. Ihre Bewegungen waren flink und durchdacht. Sie blieb stehen und streckte sich, sah über ihre Schulter und sagte etwas.
Dann sah David sie. Seine Tochter Phoebe. Sie war im Eßzimmer und deckte den Tisch. Sie hatte Pauls dunkle Haare und sein Profil, und für einen Augenblick – bis sie sich zu ihm drehte, um nach dem Salzstreuer zu greifen – hatte David das Gefühl, er sähe seinen Sohn. Er machte einen Schritt nach vorn, und Phoebe verschwand aus seinem Blickfeld, um mit drei Tellern zurückzukommen. Sie war klein und stämmig und hatte dünnes Haar, das sie mit Spängchen festgeklemmt |414| hatte. Sie trug eine Brille. Doch auch so war die Ähnlichkeit mit Paul für David immer noch ersichtlich. Er sah Pauls Lachen, seine Nase, Pauls konzentrierten Gesichtsausdruck auf Phoebes Gesicht, als sie die Hände in die Hüften stemmte und einen prüfenden Blick auf den Tisch warf. Caroline kam in den Raum und stellte sich neben sie, legte kurz und liebevoll ihren Arm um sie, und beide lachten.
Es war nun stockfinster. David stand wie angewurzelt da und war froh, daß kaum jemand auf der Straße war. Der Wind fegte die Blätter den Bürgersteig entlang, und er raffte seine Jacke zusammen. Er erinnerte sich, wie er sich in der Nacht der Geburt gefühlt hatte – als stünde er außerhalb seines eigenen Kosmos und beobachtete sich. Dieses Losgelöstsein war eine Fähigkeit, die er als Chirurg erlernt hatte – doch jetzt plötzlich verstand er, daß er nie die Kontrolle über diese Situation gehabt hatte, sondern immer von ihr ausgeschlossen war, als würde er gar nicht existieren. Phoebe war für ihn all die Jahre unsichtbar gewesen: eine Abstraktion, kein junges Mädchen. Und doch stand sie hier und stellte Wassergläser auf den Tisch. Sie schaute auf, und ein Mann mit borstigem dunklen Haar kam herein, sagte etwas, das Phoebe zum Lachen brachte. Dann setzten die drei sich an den Tisch und fingen an zu essen.
David ging zum Wagen zurück. Er stellte sich Norah vor, wie sie im Dunkeln neben ihm stehen und ihre Tochter, die ihre Eltern nicht wahrnahm, durch ihr Leben gehen sehen würde. Er hatte Norah verletzt, doch das hier sollte er ihr ersparen. Er sollte davonfahren und die Vergangenheit ruhen lassen. Und das war es auch, was er schließlich tat.
»Das verstehe ich nicht.« Rosemary schaute ihn an. »Warum kannst du es nicht versprechen? Es ist der richtige Schritt.«
»Es würde zuviel Kummer verursachen.«
»Solange du es nicht ausprobierst, wirst du nicht wissen, was passiert.«
»Ich kann es mir ausmalen.«
|415| »Dann versprich mir, daß du darüber nachdenkst, David.«
»Ich denke Tag und Nacht darüber nach.«
Sie schüttelte besorgt den Kopf und lächelte verhalten und traurig. »Na gut, belassen wir es dabei. Da ist noch was. Stuart und ich werden heiraten.«
»Ihr seid viel zu jung, um zu heiraten«, sagte er sofort, und beide lachten.
»Ich bin steinalt«, sagte sie. »So zumindest fühle ich mich die halbe Zeit.«
»Wie auch immer«, sagte er. »Herzlichen Glückwunsch. Es ist zwar keine Überraschung, aber eine
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