Die Tochter des Fotografen
hielt ihre Hand hoch. Caroline rannte zu ihr, kniete sich ins Gras und betrachtete den feuerroten, geschwollenen Kreis auf Phoebes Hand.
»Ein Bienenstich«, stellte sie fest. »Oh, mein Schatz, das tut sehr weh, oder?«
Sie drückte ihr Gesicht in Phoebes warmes Haar. Weiche, sehr zarte Haut, ihre Brust, die sich hob und senkte, und darunter der stetige Rhythmus des Herzens; hier war etwas, das weder in Zahlen ausgedrückt noch erklärt werden konnte. Phoebe war einzig sie selbst. Ein menschliches Wesen konnte man nicht kategorisieren. Niemand konnte sich anmaßen, zu wissen, was das Leben war oder bereithielt.
»Meine Süße, ist schon gut«, flüsterte sie, während sie Phoebes Haar glattstrich.
Aber Phoebes Schluchzen wurden von einem Keuchen abgelöst, das dem Krupp ähnelte, an dem sie als Kleinkind gelitten hatte. Ihre Handfläche schwoll an; Handrücken und |225| Finger ebenso. Selbst während sie sich schnell erhob und Al rief, fühlte Caroline, wie sie innerlich ganz still wurde.
»Beeil dich!« schrie sie mit lauter, fremder Stimme. »Al, sie reagiert allergisch.«
Sie hob Phoebe auf und hielt dann verwirrt inne, weil ihr Schlüsselbund in der Handtasche auf dem Küchentisch lag und sie nicht wußte, wie sie mit der schweren Phoebe auf dem Arm, deren Keuchen stärker geworden war, die Tür öffnen sollte. Da war Al schon bei ihr, übernahm Phoebe und rannte zum Auto. Irgendwie war Caroline an ihre Schlüssel gelangt, hatte Schlüssel und Tasche bei sich. Sie fuhr so schnell, wie sie es sich innerhalb der Stadt irgend traute. Als sie das Krankenhaus erreichten, rang Phoebe in flachen, verzweifelten Zügen um Atem. Sie ließen das Auto am Noteingang stehen, und Caroline griff sich die erste Schwester, die sie sah.
»Sie hat eine allergische Reaktion. Wir müssen sofort zu einem Arzt.«
Die Krankenschwester war schon älter und ein bißchen schwerfällig, und ihr graues Haar war zu einem Pagenkopf, der in einer Locke endete, frisiert. Sie führte sie durch eine Flügeltür aus Stahl, wo Al Phoebe sehr vorsichtig auf die Bahre legte.
Phoebe schnappte jetzt verzweifelt nach Luft, und ihre Lippen waren leicht blau. Auch Caroline fiel es schwer zu atmen, da ihre Brust vor Angst wie zugeschnürt war. Die Schwester strich Phoebes Haare zurück und ertastete den Puls an ihrem Hals. Und da merkte Caroline, daß sie Phoebe mit den gleichen Augen sah, mit denen Dr. Henry sie in dieser eisigen Nacht vor langer Zeit gesehen hatte. Sie beobachtete, wie die Schwester die wunderschön geschwungenen Augen und die kleinen Hände musterte, die das Netz so fest umschlossen hatten, als Phoebe hinter den Schmetterlingen hergejagt war. Und obwohl Caroline sah, wie sich die Augen der Schwester verengten, nachdem sie alles erfaßt hatte, war sie auf das, was dann folgte, nicht vorbereitet.
|226| »Sind Sie sicher?« fragte die Schwester und blickte ihr in die Augen. »Wollen Sie wirklich, daß ich einen Arzt rufe?«
Caroline war wie versteinert. Plötzlich hatte sie den Geruch von gekochtem Gemüse in der Nase und erinnerte sich an den Tag, als sie mit Phoebe weggefahren war, erinnerte sich an die ausdruckslosen Mienen der Männer von der Schulbehörde. Schlagartig verwandelte sich ihre Angst in Wut, in Zorn und einen stechenden Schmerz. Sie hob die Hand, um in das milde, farblose Gesicht der Schwester zu schlagen, aber bevor sie ihr Ziel erreichte, fing Al ihr Handgelenk auf.
»Rufen Sie den Arzt«, befahl er der Schwester. »Sofort!«
Er legte den Arm um Caroline und ließ sie, auch als die Schwester sich umdrehte und der Arzt erschien, nicht mehr los. Er hielt sie so lange umschlungen, bis Phoebe leichter atmete und ein wenig Farbe in ihre Wangen zurückgekehrt war. Dann gingen sie zusammen in den Warteraum und setzten sich Hand in Hand in die orangefarbenen Plastikstühle, an denen Schwestern vorbeischwirrten, während sich die Durchsagen aus der Sprechanlage mit Babygeschrei vermischten.
»Sie hätte sterben können«, sagte Caroline laut und begann zu zittern.
»Aber sie ist nicht gestorben«, erwiderte Al fest.
Seine Hand war groß, warm und tröstlich. All die Jahre war er so geduldig gewesen, war immer wieder gekommen, unbeirrbar. Stets hatte er gesagt, daß er warten würde. Diesmal aber war er zwei Wochen weggeblieben, nicht eine wie sonst. Er hatte nicht von unterwegs angerufen, und obwohl er ihr, wie sonst auch, Blumen mitgebracht hatte, hatte er ihr schon sechs Monate lang keinen Heiratsantrag mehr
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