Die Tochter des Fotografen
zum Mittagessen vorbei.«
Aber Howard hatte um 13 Uhr eine geschäftliche Verabredung in der Stadt.
»Da kommt Paul«, stellte Norah fest. Er lief sehr schnell an der Wasserlinie entlang und kämpfte sich über die letzten hundert Meter, wobei seine Arme und Beine in der wabernden Hitze aufleuchteten. Mein Sohn, dachte Norah, und für einen Augenblick tat sich ihr die Welt auf. Paul rief dieses Gefühl in ihr manchmal durch seine bloße Anwesenheit hervor. Laut erklärte sie: »Unser Sohn. Er ist auch ein Läufer.«
»Er ist gut in Form«, stellte Howard fest. Paul kam näher und drosselte sein Tempo. Als er sie erreicht hatte, beugte er seinen Oberkörper und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab, während er die Luft tief in seine Lungen sog.
»Und ist eine gute Zeit gelaufen«, ergänzte David, auf seine Uhr blickend. Sag es nicht, dachte Norah; David schien nicht zu bemerken, wie sehr Paul vor seinen Zukunftsvisionen zurückschreckte. Nicht. Aber David fuhr fort: »Ich kann |236| nicht mit ansehen, daß er seine Begabung so verschenkt. Sehen Sie sich seine Größe an! Stellen Sie sich vor, was er auf einem Spielfeld alles erreichen könnte. Aber Basketball interessiert ihn nicht die Bohne.«
Paul sah gequält auf, und Norah merkte, wie der alte Zorn in ihr aufflackerte. Warum konnte David bloß nicht verstehen, daß Pauls Widerstand wuchs, je mehr er ihn zum Basketball drängte. Um ihn zum Spielen zu kriegen, müßte er es Paul verbieten.
»Ich laufe lieber«, erklärte Paul und richtete sich auf.
»Und wer könnte es dir verdenken«, sagte Howard bewundernd und reichte ihm die Hand, »wenn man dich so laufen sieht!«
Paul schüttelte ihm die Hand und wurde rot vor Freude. »Ihre Haut ist perfekt«, hatte er zu ihr gesagt, es war erst einen Moment her. Norah überlegte, ob ihr Gesichtsausdruck auch so durchschaubar gewesen war.
»Kommen Sie doch zum Abendessen«, lud sie ihn, von Howards netter Geste gegenüber Paul verführt, spontan ein. Sie war hungrig und durstig, und die Sonne hatte sie leichtfertig werden lassen. »Wenn Sie nicht zum Mittagessen kommen können, leisten Sie uns doch abends Gesellschaft. Ihre Frau ist natürlich auch herzlich eingeladen«, fügte sie hinzu. »Bringen Sie einfach Ihre ganze Familie mit. Wir machen ein Feuer und kochen draußen am Strand.«
Howard runzelte die Stirn und sah auf das glänzende Wasser hinaus. Er faltete seine Hände, legte sie hinter seinen glatten, kahlen Kopf und streckte sich. »Unglücklicherweise«, sagte er, »bin ich alleine hier. Eine Art Rückzug. Ich lasse mich gerade von meiner Frau scheiden.«
»Das tut mir leid«, sagte Norah, ohne daß es ihr wirklich leid tat.
»Kommen Sie trotzdem«, sagte David. »Norah ist berühmt für ihre Abendeinladungen. Ich werde Ihnen den Rest der |237| Serie, an der ich gerade arbeite, zeigen – es geht ausschließlich um Wahrnehmung, um Verwandlung.«
»Ah, Verwandlung«, nickte Howard. »Dafür bin ich sehr zu haben. Ich komme gerne zum Abendessen.«
Bevor Howard ging, sprachen er und David noch einige Minuten miteinander, während Paul, um abzukühlen, am Wasser entlangschritt. Ein paar Minuten später, während sie in der Küche Gurken für das Mittagessen schnitt, sah Norah, wie Howard in der Ferne den Strand hinunterlief, dann aus ihrer Sicht verschwand und wieder auftauchte, als der Vorhang sich im Wind blähte. Sie erinnerte sich an die dunkle, sonnenverbrannte Stelle auf seinen Schultern, seinen durchdringenden Blick und an seine Stimme. In den Leitungen rauschte das Wasser, da Paul duschte, und sie hörte ein leises Rascheln im Wohnzimmer, wo David seine Fotos anordnete. Mit den Jahren war er ein bißchen besessen geworden. Immer sah er alles an – auch sie –, als würde er durch die Linse einer Kamera blicken. Noch immer war ihre tote Tochter präsent; um ihre Abwesenheit herum hatten sie beide ihr Leben aufgebaut. Norah überlegte sogar manchmal, ob es nicht eigentlich der Verlust war, der sie zusammenhielt. Sie ließ die Gurkenscheiben in eine Salatschüssel rutschen und begann Karotten zu schälen. Howard war zu einem Strich in der Landschaft geworden und schließlich verschwunden. Seine Hände waren riesig gewesen, die Handinnenflächen und Fingernägel hatten blaß gegen die Bräune seines übrigen Körpers gewirkt. »Schöne Haut«, hatte er gesagt, ohne sie aus den Augen zu lassen.
Nach dem Mittagessen nickte David in der Hängematte ein, und Norah streckte sich auf dem Bett
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