Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter des Fotografen

Die Tochter des Fotografen

Titel: Die Tochter des Fotografen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Edwards
Vom Netzwerk:
unter dem Fenster aus. Vom Ozean wehte eine frische Brise herein; sie fühlte sich voller Leben, und ihr war, als verbinde sie der Wind mit dem Sand und dem Meer. Howard war ein ganz gewöhnlicher Mann. Obwohl dünn und fast kahl, hatte er allerdings etwas geheimnisvoll Bezwingendes an sich, das vielleicht von ihrer |238| eigenen, tiefen Einsamkeit und ihren Wünschen heraufbeschworen wurde. Sie mußte an Bree denken, die hocherfreut über sie wäre und lachen würde.
    »Ja, warum auch nicht?« würde sie sagen. »Jetzt mal im Ernst, Norah, warum probierst du es nicht aus?«
    Ich bin eine verheiratete Frau, würde Norah antworten und ans Fenster rücken, um den blendenden Sand zu betrachten, während sie darauf brannte, daß ihre Schwester sie widerlegte.
    »Meine Güte, Norah, du lebst nur einmal. Warum gönnst du dir nicht mal ein bißchen Spaß?«
    Norah stand unentschlossen herum, bis sie leise über die alten, abgenutzten Dielen lief, um sich einen Gin mit Limonensaft zu mischen. Sie setzte sich in die Schaukel auf der Veranda, die träge im Wind schwang, und betrachtete den schlafenden David, der ihr in diesen Tagen so unbekannt vorkam. Gittarrenklänge schwebten in der lauen Luft. Sie stellte sich vor, wie Paul im Schneidersitz, den Kopf konzentriert über seine geliebte Almansa-Gitarre gebeugt, die David ihm zu seinem letzten Geburtstag geschenkt hatte, auf dem schmalen Bett saß. Es war ein wunderschönes Instrument, dessen Hals aus Ebenholz, dessen Rück- und Seitenwände aus Rosenholz und dessen Wirbel aus Messing gefertig waren. David gab sich Mühe mit Paul. Zwar drängte er ihn wirklich zu sehr zum Sport, aber er nahm sich auch Zeit, um mit ihm angeln zu gehen oder schier endlos mit ihm nach Steinen zu suchen. Er hatte Stunden damit verbracht, nach dieser Gitarre zu suchen, und sie letztendlich von einer Firma in New York bezogen. Als Paul sie ehrfürchtig aus ihrer Kiste hob, war Davids Gesicht von stiller Freude beseelt gewesen. Nun sah sie ihn an, wie er da auf der anderen Seite der Veranda schlief, während ein Muskel seiner Wange zuckte. »David«, flüsterte sie, ohne daß er sie hörte. Und dann ein bißchen lauter: »David.« Aber er regte sich nicht.
    Um vier Uhr stand sie verträumt auf. Sie wählte ein mit Blumen gesprenkeltes Strandkleid, dessen Stoff in der Taille |239| gerafft war und das von dünnen Trägern an der Schulter gehalten wurde. Dann zog sie eine Schürze darüber und begann einfache Gerichte aus delikaten Zutaten zu kochen: ein Stew aus Austern, zu dem knusprige Cracker gereicht werden sollten, goldgelb geröstete Maiskolben, einen frischen grünen Salat und kleine Hummer, die sie heute morgen auf dem Markt gekauft hatte und die sich noch in Eimern mit Meerwasser befanden. Während sie in der winzigen Küche umherwirbelte, Kuchenformen zu Pfannen umfunktionierte und Oregano an die Salatsoße gab, rutschte das knappe Baumwollkleid an ihren Schenkeln hoch. Atemwarme Luft streifte ihre Arme. Sie tauchte ihre Hände in ein Becken voll kaltem Wasser und spülte die zarten Salatblätter einzeln ab. Paul und David arbeiteten unterdessen daran, ein Feuer in dem halb verrosteten Grill anzuzünden, dessen Löcher mit Aluminiumfolie geflickt waren. Der verwitterte Tisch war mit Papptellern gedeckt, und der Wein war bereits in durchsichtige rote Plastikbecher geschenkt worden. Die Butter würde ihnen über die Hände laufen, wenn sie die Hummer mit den Fingern aßen.
    Noch bevor sie ihn sah, hörte sie seine Stimme. Anders als Davids klang sie etwas tiefer, nasaler und ließ einen neutralen Akzent aus dem Norden erkennen. Mit jeder Silbe zog ein frischer Wind durch den Raum, der einen Hauch von Schnee mit sich zu bringen schien. Norah trocknete ihre Hände an einem Küchentuch ab und näherte sich dem Eingang.
    Die drei Männer – es erschreckte sie, daß sie Paul mit einbezog, aber er wirkte, Seite an Seite mit David, fast erwachsen und unabhängig, als ob sein Körper niemals etwas mit ihrem zu tun gehabt hätte – standen zusammen auf dem Sand vor der Veranda. Der Grill duftete nach Rauch und Harz, und die Kohlen schickten wabernde Hitzewellen in den Himmel. Paul, mit nacktem Oberkörper, die Hände in den Taschen seiner abgeschnittenen Hose, beantwortete Fragen |240| unbeholfen und knapp. Sie sahen sie nicht, ihr Ehemann und ihr Sohn; sie hatten ihren Blick auf das Feuer und den Ozean gerichtet, der zu dieser Stunde so glatt wie dunkles Glas dalag. Howard hingegen, der ihnen

Weitere Kostenlose Bücher