Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
ihn geweckt hatte. Oder vielleicht war derjenige ja immer noch da …
Henry stieß die Tür weiter auf. Alles war still. Das Mondlicht machte den Raum fast taghell; es fiel auf Miss Smallwoods Bett und ihre schlanke Gestalt, die darin lag, die Decke bis zur Taille heruntergezogen. Er trat näher und das Licht seiner Kerze fiel auf ihr weißes Nachthemd. Und auf den Blutfleck auf ihrer Brust.
Sein Herz klopfte so stark, dass er dachte, sein Brustkorb müsse zerspringen. Einen Augenblick stand er nur da, wie gelähmt, und starrte auf ihr stilles, blasses Gesicht. Der große Fleck wirkte wie eine rote Blume auf ihrer Brust. Schmerz und Zorn hielten ihn so fest gepackt, dass er kaum atmen konnte.
Im nächsten Augenblick fiel er neben dem Bett auf die Knie und griff nach ihrem Handgelenk. Er schloss die Augen, um sich zu konzentrieren, und spürte das sanfte Schlagen des Herzens. Danke, Gott .
Er öffnete die Augen im gleichen Moment, in dem sie die ihren aufschlug und ihn traumverloren ansah. War sie überhaupt bei Bewusstsein? Geschwächt vom Blutverlust?
»Emma, wer war das?« Er griff nach dem Ausschnitt ihres Nachthemds, entschlossen nachzusehen, wie schwer die Wunde war.
Als seine Finger den Stoff berührten, flog ihre Hand hoch und packte sein Handgelenk. Ihre Augen waren jetzt aufgerissen und hellwach.
»Was machen Sie da?«, wollte sie wissen.
Er deutete auf ihre Brust. »Sie bluten.«
Sie blickte an sich herunter. Als sie den großen roten Fleck sah, schnappte sie nach Luft, setzte sich auf und griff sich an die Brust. Sie zog den Stoff ein Stückchen beiseite und betrachtete die Haut darunter.
Sie schüttelte den Kopf. »Es geht mir gut. Ich bin nicht verletzt.«
»Verdammt!«, explodierte Henry. »Was geht hier vor?«
Adam, der hinter ihm stand, wimmerte.
Sie schnaubte. »Schreien Sie mich nicht an! Sie sind schließlich nicht aufgewacht und mussten feststellen, dass sich ein Mann über Ihr Bett beugt.«
»Doch, genau genommen habe ich ebendies gerade erlebt. Adam hat mich geweckt.« Er deutete auf seinen Bruder, der sich auf der Schwelle zusammengekauert hatte, und wandte sich wieder an Emma. »Tut mir leid. Aber Sie haben mir einen furchtbaren Schreck eingejagt.«
Mit seiner eigenen entzündete Henry die Kerzen auf Emmas Nachttisch und Waschtisch. In diesem Moment entdeckte er den blutroten Handabdruck an der Wand.
»Was um Himmels willen …?« Vorsichtig stippte er den Finger in die rote Substanz; sie war dick, zähflüssig … Er hob den Finger an die Nase und schnüffelte. Es roch nicht nach Blut.
»Adam?«, fragte Emma in Richtung Tür. »Ist schon gut, ich bin nicht verletzt. Es geht mir gut.«
Henry blickte über die Schulter zurück und sah, wie Adam sich aufrichtete und zögernd einen Schritt nach vorn tat.
Emma streckte ihm die Hand hin. »Es geht mir gut. Ich bin nicht verletzt. Siehst du? Das ist nicht mein Blut. Wahrscheinlich ist es nur Farbe. Es war ein Streich, mehr nicht.«
»Streich?«, wiederholte Adam verwirrt.
»Ein Scherz. Aber kein sehr lustiger.«
Adam schüttelte den Kopf. »Ich mag keine Streiche.«
Ich auch nicht , dachte Henry im Stillen.
Am nächsten Morgen bat Henry Miss Smallwood, unten zu warten, und wies Morva an, Miss Smallwoods Zimmer nicht zu säubern und auch das beschmutzte Nachthemd nicht mitzunehmen. Dann ließ er Lady Weston, Sir Giles, Phillip, Julian, Rowan und Lizzie rufen.
Miss Smallwood hatte die Sache eigentlich geheim halten und auf ihre Weise lösen wollen – indem sie nicht darauf reagierte. DochHenry konnte nicht dabeistehen und nichts tun. Eine Linie war überschritten worden; er hatte genug.
Anscheinend war seine Stiefmutter der gleichen Ansicht. Sie blickte sich im Zimmer um, betrachtete den roten Handabdruck und das verfärbte Nachthemd, hörte sich Henrys Schilderung der Ereignisse an und warf die Hände in die Luft.
»Jetzt ist das Maß endgültig voll! Wirklich, Giles, es muss ein Ende haben. Ich habe Henry gewarnt, was passieren kann, wenn wir Adam nach Belieben im Haus herumstrolchen lassen. Schau dir das an! Blutflecken in Miss Smallwoods Zimmer! Das ist ganz klar eine Drohung. Ich muss darauf bestehen, dass wir seine Unterbringung in einer Pflegefamilie mit größerem Nachdruck vorantreiben. Vielleicht sollten wir die Aufgabe Mr Davies übertragen; ihm könnte durchaus gelingen, was Henry nicht geschafft hat. Bis dahin muss ich außerdem darauf bestehen, dass Adams Tür nachts abgeschlossen wird, um seiner eigenen
Weitere Kostenlose Bücher