Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
wenig an eleganter Kleidung liegt, sondern der sie geradezu grausam missbraucht und damit auch mich.«
Bei diesen Worten hob er mit zwei Fingern einen Gegenstand hoch, als hielte er eine tote Ratte am Schwanz.
Henry sah hin und runzelte die Stirn.
Der gekränkte Kammerdiener präsentierte ihm einen seiner, Henrys, Handschuhe. Die Handfläche war dunkelrot verfärbt von getrockneter Farbe oder … Blut.
Das Geheimnis, wie der große, »blutige« Abdruck an die Wand gekommen war, war gelöst.
Blieb nur noch nach wie vor die Frage: Wer hatte es getan?
Und warum?
23
Wonnevoll ist's bei wogender See, wenn der Sturm die Gewässer aufwühlt, ruhig vom Lande zu sehn, wie ein andrer sich abmüht.
Lukrez, römischer Dichter und Philosoph
Als Emma über die Ereignisse der letzten Nacht nachdachte und über das, was Henry über die morgendliche Konfrontation mit seiner Familie berichtet hatte, stellte sie fest, dass ihr Adams künftiges Schicksal ebenso große Sorge machte wie ihre eigene Sicherheit. Sie hatte Angst davor, welche Folgen die Falschinformationen, die über ihn verbreitet wurden, und die daraus folgende zunehmende Feindseligkeit ihm gegenüber für seine Zukunft haben würden. Emma wünschte, sie hätte einen wirklich guten Plan, einen Coup de Grâce , um dem Feldzug gegen Adam ein Ende zu bereiten, aber ihr fiel nichts ein. Sie hatte nur eine einzige Idee, einen Einfall, der die Dinge vielleicht ein wenig zu seinen Gunsten verschieben konnte. Sie wusste nicht, ob es funktionieren würde, aber sie musste es wenigstens versuchen.
Am Sonntag hatte sie keine Gelegenheit dazu, aber am Montag setzte sie sich auf ein antikes Sofa in der Halle vor dem Musikzimmer und hoffte, dass ihr Plan gelingen würde. Es war die Zeit, da Lady Weston gewöhnlich den Salon verließ und sich in ihr Schlafzimmer zurückzog, um Briefe zu schreiben und ein Schläfchen zu halten. Emma hoffte, dass sie heute nicht ausnahmsweise von dieser Routine abwich.
Sie hörte Schritte, also kam jemand. Emma lehnte sich zurück, den Kopf so dicht wie möglich an der Tür, und tat so, als nähme sie nichts und niemanden wahr außer der Musik. Sie hielt den Atem an, als Lady Weston auf sie zukam, den Kopf schräg gelegt, und sie neugierig ansah.
»Um Himmels willen, was machen Sie denn da, Miss Smallwood?«
Emma legte den Finger auf die Lippen. »Schhhhh! Ich höre zu.«
Lady Weston runzelte die Stirn angesichts dieser unverblümten Aufforderung, doch dann neigte sie ihren Kopf auf die andere Seite. »Ah! Julian lernt ein neues Stück. Der Junge hat ein solches Talent!«
»Das finde ich auch.«
»Warum gehen Sie nicht hinein? Da hören Sie es viel besser.«
Emma schüttelte den Kopf. »Ich möchte ihn nicht stören. Ich glaube, er … er kämpft mit ein paar Noten. Er ist heute nicht ganz er selbst.«
»Unsinn«, beharrte Lady Weston. »Er spielt großartig.« Sie lauschte noch ein wenig länger. »Er hat sogar noch nie besser gespielt.«
Lady Weston trat einen Schritt näher an die Tür und schloss die Augen, um die Musik zu genießen. »Es ist wirklich wunderschön. Ich frage mich, was das für ein Stück ist. Kennen Sie es?«
»Nein.«
»Ich werde ihn fragen müssen.«
»Ich glaube, er kennt es auch nicht.«
»Seien Sie doch nicht töricht! Natürlich kennt er es. Es sei denn … wollen Sie damit sagen, dass es seine eigene Improvisation ist? Da würde sogar seine stolze Mama staunen.«
»Nein, ich bin sicher, dass er es bereits einmal irgendwo gehört hat.«
Lady Weston schnaubte. »Jetzt ist aber genug mit dieser Herumsteherei hier draußen, wie jemand aus der Unterschicht, der sich keinen Platz im Saal leisten kann. Wir gehen hinein.« Sie griff nach der Türklinke.
Emma legte ihr sanft die Hand auf den Ärmel. »Lassen Sie uns bitte zuerst … nur heimlich hineinschauen. Ganz leise. Ich finde es schrecklich, einen so talentierten Musiker mitten in seinem Spiel zu stören.«
»Gut«, flüsterte Lady Weston. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte mit erwartungsvollem, nachsichtigem Lächeln ins Zimmer.
Ihr Lächeln erlosch. Sie starrte sprachlos zum Klavier hinüber, ihr Mund stand offen.
Emma konnte nicht widerstehen. Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und warf einen Blick über Lady Westons Schulter. Am Klavier saß Adam Weston, die Augen geschlossen, und nickte leicht mit dem Kopf zu seinem Spiel.
Lady Weston blieb noch einen Augenblick stehen, stocksteif, und lauschte, als könne sie nicht glauben, was sie
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