Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
sah und hörte. Dann schloss sie langsam und leise die Tür. Emma setzte sich lautlos wieder hin.
»Es ist gar nicht Julian«, murmelte Lady Weston.
»Ach?«, sagte Emma unverbindlich.
Lady Weston warf ihr einen scharfen Blick zu, doch Emma bot ihr keine Erklärung an und sagte auch nicht, dass sie gesehen hatte, wie Julian vor einer halben Stunde mit Mr Teague zu den Stallungen gegangen war, unmittelbar bevor sie Adam gebeten hatte, ein bisschen zu spielen.
»Sie haben mir einen Streich gespielt, nicht wahr?«, fragte Lady Weston verwundert, doch ihrer Stimme fehlte die Schärfe, die Emma erwartet hatte.
»Ja«, flüsterte Emma. Dann sah sie der Frau in die Augen und ließ alles, was sie fühlte, aus ihrem Blick sprechen, ihren tiefen Wunsch, dass Adams Familie auch diesen Sohn akzeptieren und wertschätzen würde.
Lady Weston zögerte, dann ging sie davon, ganz in Gedanken versunken.
Als Adam sein Spiel beendet hatte, begleitete Emma ihn in sein Zimmer. Ein rascher Blick auf die Chatelaine-Uhr an ihrem Mieder sagte ihr, dass es gleich Zeit war, zum Nachmittagsunterricht ins Schulzimmer hinaufzugehen. Sie dankte Adam noch einmal, dass er für sie gespielt hatte, und lief hinauf. Sie hatte ihren Vater nicht mehr gesehen, seit er Julian und Rowan nach dem Morgenunterricht entlassen hatte.
Im Schulzimmer saß Rowan bereits am Tisch, über seinen Zeichenblock gebeugt. Ihr Vater war nirgends zu sehen.
»Guten Tag, Rowan.«
Er blickte auf. »Hallo, Miss Smallwood.« Dann gab er ihr einen zusammengefalteten Brief. »Ich soll Ihnen das geben. Ich glaube, ihr Vater kommt heute nicht mehr.«
»Ach ja?« Das war Emma neu. Das hatte er ihr gar nicht gesagt. Sie nahm den Brief und las ihn.
Emma, meine Liebe,
ich bin zur Chapel of the Rock gegangen, da du mir erzählt hast, wie sehr der Ort dich beeindruckt hat, als Mr Weston ihn dir zeigte. Ich bin rechtzeitig zurück zum Nachmittagsunterricht.
J. Smallwood
Ihr Vater, zur Chapel of the Rock gegangen … allein? Was dachte er sich dabei? Hatte er Henry überhaupt vorher nach den Gezeiten gefragt? Emma war sich sicher, dass sie ihm gegenüber erwähnt hatte, wie gefährlich der Ort war, und dass er die sich laufend ändernden »sicheren« Zeiten nicht kannte, zu denen man sich dort hinauswagen konnte.
Sie verspürte einen sorgenvollen Stich im Magen und runzelte unwillkürlich die Stirn. Ganz ruhig, Emma , sagte sie sich. Schließlich war ihr Vater ein hochintelligenter Mann. Du meine Güte, er war Lehrer; er würde nicht einfach auf einen Felsen im Meer hinausmarschieren, ohne Vorkehrungen zu treffen.
Aber trotzdem; ihr Vater war zwar, seit sie auf Ebbington Manor waren, nicht mehr so melancholisch wie früher, aber er war hier an der Küste auch nicht wirklich in seinem Element, er kannte das Meer nicht.
Sie las die Nachricht noch einmal. Dabei fielen ihr die etwas zittrige Schrift und die hingekritzelte Unterschrift auf. War er wegen irgendetwas nervös gewesen? Dies war nicht seine normale, saubere Handschrift, obwohl sie die für seine Unterschrift typischen J und Serkannte. War es nicht ein wenig seltsam, dass er den Brief nicht einfach mit Papa unterschrieben hatte? Da sie fast immer zusammen waren, hatten sie selten, wenn überhaupt je Gelegenheit, einander zu schreiben, aber sie fand diese Unterschrift doch sehr kühl. War er noch immer enttäuscht von ihr, weil sie Lizzie geschlagen hatte?
Sie beschloss, in Henrys rotem Buch nachzuschlagen und sich über die Gezeiten Gewissheit zu verschaffen. Hoffentlich hatte er nichts dagegen. Sie entschuldigte sich bei Rowan und ging in Henrys Arbeitszimmer. Henry war, soweit sie wusste, zu irgendeinem Treffen gegangen. Trotzdem klopfte sie leise und erst, als niemand antwortete, betrat sie das Zimmer.
Ihr Blick wanderte über den unordentlichen Arbeitstisch, dorthin, wo er letztes Mal das Buch hervorgekramt hatte, doch sie sah es nirgends. Hoffentlich hatte er es nicht aus irgendeinem Grund mitgenommen. Sie durchsuchte rasch das Zimmer, schaute in den Regalen und Schränken nach. Ein roter Buchrücken im Bücherregal fiel ihr ins Auge; sie ging hin, um den Band herauszuziehen, und seufzte vor Erleichterung auf. Anscheinend hatte er oder ein fleißiges Mädchen aufgeräumt, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Vielleicht war er zu dem Schluss gekommen, dass ihr System, einen festen Ort für alles zu haben, doch etwas für sich hatte.
Sie schlug das Buch auf und suchte die Tabelle mit den für heute
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