Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
starker Sturm zu einer extrem hohen Flut führte. Einerseits war er bereit, sein Schicksal zu akzeptieren. Sein Glaube an das ewige Leben war so groß, dass der Gedanke an den Tod ihn nicht schreckte. Andererseits hätte er ganz gern zuerst noch fünfzig Jahre gelebt, so Gott wollte.
Doch er war nicht bereit, Emma Smallwoods Tod hinzunehmen. Nicht durch die Hände eines Mitglieds seiner eigenen Familie. Und nicht, solange sie Zweifel an Gott hatte. Ihr Schicksal lastete wie eine schwere Bürde auf seinen Schultern – schwerer als ein halb ertrunkener Matrose, schwerer als sechs Matrosen – und machte sein Herz bleiern.
Während er betete, arbeitete er weiter. Er war gewiss, dass Gott seine Gebete erhörte, aber er glaubte nicht, dass der Allmächtigewollte, dass er faul herumsaß und die ganze Arbeit ihm überließ. Aus dem Alten Testament hatte Henry gelernt, dass Gott, auch wenn er seinem Volk das Land versprach, trotzdem von den Menschen erwartete, dass sie in die Schlacht zogen. Dass sie sich anstrengten. Deshalb betete er und fuhr gleichzeitig fort, am Mörtel zu kratzen.
Doch es ging viel zu langsam.
Eine Viertelstunde später stand ihnen das Wasser bereits bis zu den Knöcheln und floss in einem stetigen Strom durch das West- und das Südfenster herein, unterbrochen nur von mächtigen Wellen, die gegen die Kapelle krachten und das Gebäude in seinen Grundfesten erschütterten.
Sie versuchten, das Westfenster zu verschließen, doch die Wellen drückten jedes Hindernis, das Henry hineinstopfte, beiseite. Würde das aufgewühlte Meer diesmal die ganze Kapelle fortspülen, wie schon den Rest der Kirche – und sie beide mit ihr? Wenn sie nicht vorher im stetig steigenden Wasser ertranken, war das sogar gut möglich.
Durch die anderen Fenster drang sturmgraues Tageslicht. Es war sehr unwahrscheinlich, dass irgendjemand ihre Laterne sah, ehe es dunkel wurde. Würde der Turm dann noch stehen?
Auf der anderen Seite watete Emma durch das Wasser, immer noch auf der Suche nach einem Ausweg oder einem weiteren Werkzeug, mit dem sie ihm helfen konnte, am Mörtel zu kratzen. Er sah, dass sie zitterte. Natürlich fror sie. Was war er doch für ein Idiot! Ihm war warm von seiner mühseligen Arbeit, deshalb stand er auf, patschte durch das Wasser zu ihr und zog im Gehen seinen Mantel aus.
Sie merkte, was er vorhatte, und schüttelte den Kopf. »Darin versinke ich ja!«
Das kann gut sein , dachte er, sprach die grässliche Prophezeiung jedoch wohlweislich nicht aus. »Dann halten Sie ihn bitte kurz«, sagte er stattdessen.
Sie nahm den Mantel, faltete ihn zusammen und hielt ihn über Wasser, während er sich aus seiner Jacke quälte, was ihm einige Mühe bereitete, einmal, weil sie so eng geschnitten war, aber auch, weil seine Hände ganz taub waren.
»Verzeihen Sie«, murmelte er, als er in Hemd und Weste vor ihr stand.
Sie sagte: »Ich fühle mich nicht beleidigt, weil Sie nur Hemdsärmel tragen, Mr Weston. Ich glaube kaum, dass Schicklichkeitsfragen im Moment unsere Hauptsorge sind.«
Er hielt ihr seine Jacke hin. »Ziehen Sie die an.«
»Aber es ist Ihre. Sie werden frieren.«
»Unsinn.« Er legte sie ihr um und ließ dabei seine Hand etwas länger als nötig auf ihrer Schulter ruhen, um ihr vielleicht wenigstens ein klein bisschen Trost zu spenden. »Ich bin ein kräftiger kornischer Junge, Sie sind nur ein zartes Binnenland-Mädchen.«
Sie sah auf, als sei sie beleidigt, doch dann brachte sie ein zittriges Lächeln zustande.
Gut. Sie merkte, dass er sie neckte. Wie schade, dass sie gerade erst anfingen, einander zu verstehen.
Sie gab ihm seinen Mantel zurück und steckte ihre Arme durch die Ärmel seiner Jacke. »Danke, gütiger Herr.« Sie machte einen eleganten Knicks.
Er lachte über ihre Tapferkeit und ihren Versuch, die Situation mit Humor zu nehmen, machte seine schönste formelle Verbeugung, legte die Hand auf sein Herz und sagte: »Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen, Miss Smallwood.«
Einen Augenblick sahen sie einander an und ein warmer Strom der Zuneigung durchfloss sie. Dann brach eine weitere Welle herein und durchnässte sie von oben bis unten. Eisiges Wasser drang durch das feine Leinen seines Hemds, sodass es an ihm klebte und er vor Kälte zitterte.
Emma schnappte nach Luft, als der eisige Schock sie traf, dann war es auch schon wieder vorbei. Er zog seinen Mantel an, und während er ihn zuknöpfte, bestand er darauf, dass sie das Gleiche mit der Jacke tat.
Dann machte er
Weitere Kostenlose Bücher