Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
sich wieder an die Arbeit. Noch ein Schlag gegenden Mörtel – und endlich, es bildete sich ein Riss. Er hätte vor Freude aufschreien können, doch im nächsten Moment wurde er wieder ernüchtert, denn durch den Riss drang Wasser ein, ein dünner Strahl, aber unter Hochdruck. Es war zu spät. Selbst wenn es ihm gelang, ein Loch zu schlagen, ihr Fluchtweg lag mittlerweile unter Wasser. Die Flut war da und die sturmgepeitschten Wellen hatten den Wasserspiegel noch weiter angehoben. Genau genommen hatte er ihre Situation soeben noch verschlimmert, indem er eine weitere Öffnung geschaffen hatte, wenn auch eine winzige, durch die das Wasser in ihre unsichere Zuflucht eindringen konnte.
Emma, die offenbar gehört hatte, dass er seine hartnäckigen Bemühungen eingestellt hatte, blickte auf; ihre Augen leuchteten hoffnungsvoll. Sie schaute von seinem Gesicht hinunter auf das Leck, durch welches das Wasser hereinschoss, und die Hoffnung schwand aus ihrem Blick. Sie biss sich auf die Lippe, wahrscheinlich kämpfte sie gegen die Tränen an; der Anblick tat ihm im Herzen weh.
Herr, bitte hilf mir, sie zu retten! Wie sehr er sich danach sehnte, ihr Retter zu sein, ihr tapferer Held! Ihr zu beweisen, dass er mehr war als der mutwillige Unruhestifter, an den sie sich erinnerte und für den sie ihn wahrscheinlich immer noch hielt.
Der Sturm draußen wurde zusehends stärker. Wind und Wellen schlugen brüllend gegen die Steinmauern. Mit jeder neuen Woge schoss ein weiterer Schwall durch das West- und das Südfenster; das Wasser reichte ihnen inzwischen schon bis zu den Knien.
Henry watete zu dem robusten, hüfthohen Taufbecken. Seine Verzierungen waren längst verschwunden, wahrscheinlich schon vor Jahren von einem jugendlichen Vandalen im Zuge einer Mutprobe geraubt. Henry riss ein noch recht stabil wirkendes Brett aus einer der verfallenden Kirchenbänke und legte es über das Becken, dann winkte er Emma zu sich. »Kommen Sie, wir setzen Sie hier hoch. Hier ist es trockener.«
Sie sah ihn ernst an. »Können wir gar nichts mehr tun?«
»Mir fällt nichts mehr ein. Außer beten, dass irgendjemand das Licht sieht und merkt, dass wir hier draußen sind.«
»Aber selbst wenn das der Fall wäre, der Weg hier heraus ist inzwischen überspült.«
»Vielleicht noch nicht ganz.« Er streckte ihr seine Hand hin. »Kommen Sie.«
Sie starrte seine Hand an, dann wanderten ihre Augen zurück zu seinem Gesicht. Er wusste, warum sie zögerte. Seine Hand zu akzeptieren hieß, die Niederlage zu akzeptieren – die Tatsache, dass sie nichts mehr tun konnten, als zu warten, bis sie ertranken oder gerettet wurden. Er wusste, wie wichtig es Emma Smallwood war, wie sehr sie es brauchte, alles unter Kontrolle zu haben. Ihre Probleme selbst zu lösen. Sie hasste das Gefühl, hilflos zu sein, abhängig zu sein von einem anderen Menschen. Ihm selbst gefiel das auch nicht – mit einer Ausnahme: Gott. Er akzeptierte es, von Gott abhängig zu sein. Und genau an dem Punkt waren sie jetzt, dachte er. Hilflos. Angewiesen allein auf die Gnade Gottes.
»Kommen Sie«, wiederholte er, doch er blieb stehen, wo er war, trat nicht näher zu ihr hin, um ihre Hand zu nehmen. Er wollte, dass sie zu ihm kam, dass sie sich hingab.
Emma wurde klar, dass sie nichts mehr tun konnte. Zum ersten Mal in ihrem Leben musste sie sich eingestehen, dass sie vor einem unlösbaren Problem stand. Am Krankenbett ihrer Mutter war sie zwar ebenso hilflos gewesen, doch damals hatte sie diese Tatsache nie wirklich akzeptiert. Sie hatte nie aufgehört, medizinische Bücher und Kräuterlexika zu wälzen, und immer weiter nach einem Heilmittel gesucht. Sie hatte das Krankenzimmer blitzsauber gehalten und unermüdlich allergesündeste, leicht verträgliche Schonkost und kräftigende Fleischbrühen zubereitet. Hatte den Apotheker mit Fragen gelöchert und eine zweite Meinung von einem Arzt in Plymouth eingeholt, worum ihr Vater sich nicht bemüht hatte. Es war zwar letztlich alles vergebens gewesen, aber dennoch hatte sie es versucht. Sie hatte gekämpft.
Jetzt gab es nichts mehr, was sie noch tun konnte – sie konnte keine zweite Meinung einholen, keine Bücher konsultieren, keinenVater bedrängen, keine Tante Jane fragen. Sie konnte nichts mehr tun außer beten. War es heuchlerisch, sich jetzt an Gott zu wenden, wo sie doch immer alles getan hatte, um unabhängig zu bleiben, es ohne ihn zu schaffen? Wahrscheinlich schon. Aber galt das nicht auch für so viele Gebete an
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