Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Meter von ihr entfernt. Sie eilte weiter.
Endlich stand sie vor der Kapelle. Sie stieg die Stufen hinauf und vermisste dabei Henrys helfende Hand, seine starke, tröstliche Gegenwart. Die Tür vor ihr war geschlossen, so wie es von oben, vom Haus aus, gewirkt hatte. Wahrscheinlich hatte ihr Vater sie hinter sichgeschlossen, um die schlimmsten Windstöße abzuhalten, während er sich drinnen umsah und vielleicht sogar friedlich betete.
Sie drückte die Klinke nieder und stieß die Tür auf. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, das durch die hohen, schmalen Fenster fiel.
»Papa?«, rief sie. Ihre Stimme zitterte und hallte von den Sandsteinwänden wider. »Bist du hier drin?«
Nur das Brüllen der See und die Schreie der fernen Möwen waren zu hören. War er vielleicht auf einer der verfaulenden Kirchenbänke eingeschlafen? Ihr Blick glitt über das Taufbecken, die verrottenden Bänke, den zerfallenden Altar. Sie ging ganz nach hinten durch, zu der Backsteinwand, die früher zu dem größeren Kirchenschiff geführt hatte, das schon lange an die Wellen verloren war.
Leer. Hier war niemand. Wo war ihr Vater dann? War er hier gewesen, aber nur kurz? Oder hatte er beschlossen, doch nicht zur Kapelle zu gehen, und hatte stattdessen den Weg ins Dorf eingeschlagen, um ein Glas Grog zu trinken oder dergleichen? Hatte sie ihn deshalb verfehlt?
Sie hörte etwas, ein kratzendes Geräusch von Holz auf Stein, und fuhr herum. Die Tür ging weiter auf – jemand kam herein. Sie verkrampfte, hoffte nur, dass es kein Fremder war oder schlimmer noch, Mr Teague. Es dauerte einen Moment, bis sie die Gestalt ausmachen konnte, die dort im Licht stand, das von draußen hereinfiel, eine Laterne in der Hand.
Als sie ihn erkannte, war sie grenzenlos erleichtert.
»Henry! Ich meine … Mr Weston!«
Es kam kein Antwortlächeln und auch kein freundlicher Gruß. »Was machen Sie hier?«, fuhr er sie völlig außer sich an. »Die Flut kommt.«
Der arrogante Ton, der ihr vermittelte, dass sie ein Dummkopf war, gefiel ihr überhaupt nicht. »Ich suche meinen Vater. Ihr kleines Buch sagt, dass noch genügend Zeit ist. Wollen Sie mir vielleicht sagen, dass Sie sich geirrt haben?«
»Ich habe mich nicht geirrt. Jemand hat die Zahlen manipuliert.«
Emma fuhr der Schreck in den Magen; ihr Zorn auf Henry war im Nu verflogen. »Wer?«
Er durchquerte die Kapelle mit langen Schritten und streckte ihr die Hand entgegen – nicht als Bitte, sondern als Befehl. »Darüber reden wir später. Kommen Sie. Mein Pferd ist am Strand angebunden.«
Sie reichte ihm zögernd die Hand. »Haben Sie meinen Vater gesehen?«
Er drehte sich um und zog sie mit sich. »Ja. Er …«
Mit einem Krachen schlug die Tür der Kapelle zu, dann hörten sie, wie ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
»He!«, schrie Henry. »Wir sind noch drin!«
Er ließ ihre Hand los, stellte die Lampe ab, lief zur Tür und versuchte vergeblich, sie zu öffnen. »Aufmachen!« Er donnerte dagegen wie ein wütender Schmied auf seinen Amboss. »Aufmachen, sofort!«
Sie fiel ein in der Hoffnung, ihre höhere Stimme würde besser durch das Holz dringen. »Hallo! Wir sind in der Kapelle! Öffnen Sie die Tür!«
Sie horchten. Nichts. Nichts außer dem Wind und den Wellen, selbst die Möwen waren an Land geflogen.
»Hallo?«, wiederholte sie kläglich ein weiteres Mal. »Ist da jemand?« Sie sah ihn an und sagte: »Vielleicht war es ja nur der Wind?«
Henry kämpfte wieder mit der Klinke. »Und der hat die Tür abgeschlossen?«, fragte er bitter. »Wohl kaum.«
»Aber wer sollte denn abschließen«, fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Ich dachte, der Schlüssel hängt in Ihrem Arbeitszimmer.«
»Dort hing er auch. Offenbar hat ihn jemand weggenommen.« Er legte seine Schulter an die Tür und stieß dagegen wie ein zorniger Bock.
»Vorsichtig!«, bat Emma. »Sie verletzen sich.«
Er zögerte, seine leuchtend grünen Augen sahen sie an. »Sie verstehen nicht, Miss Smallwood. Wenn wir hier nicht herauskommen, passiert Schlimmeres, als dass wir uns verletzen. Wir könnten umkommen.«
Angst flackerte in Emma Smallwoods Gesicht auf und sofort bereute Henry, dass er seine Befürchtungen laut ausgesprochen hatte.
»Zweifellos übertreiben Sie, Mr Weston«, sagte sie kühl, fest entschlossen, nicht in Panik zu verfallen. »Die Flut war nicht sonderlich hoch, als ich hierher gegangen bin, und der Wind ist … nun, ich habe auf jeden Fall schon
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