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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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vergessen, ich bin gleich zurück.«
    Der junge Mann nickte und Henry lief durch die Hintertür ins Haus.
    Plötzlich kam Rowan um die Ecke und wäre beinahe mit ihm zusammengestoßen. »Henry!«, rief er erschrocken, fasste sich jedoch gleich wieder. »Ich dachte, du hättest eine Besprechung!«
    »Hatte ich auch. Was machst du hier unten? Warum bist du nicht im Schulzimmer?«
    Rowan biss sich auf die Unterlippe. »Da ist keiner. Wir haben heute Nachmittag anscheinend frei.«
    Henry betrachtete seinen Bruder forschend; er wirkte trotzig, war aber gleichzeitig verräterisch rot im Gesicht und konnte ihm nicht in die Augen sehen.
    »Wo ist Miss Smallwood?«, fragte er.
    »Weggegangen, ihren Vater suchen.«
    »Ach ja? Warum?« Henry dachte an den grauen Himmel und den ständig zunehmenden Wind.
    Rowan zögerte. »Sie dachte, er sei vielleicht zur Kapelle gegangen, aber das glaube ich eigentlich nicht.«
    »Zur Kapelle? Wie kam sie denn auf die Idee?«
    Rowan zuckte die Achseln. »Das hat sie jedenfalls gesagt.«
    »Verdammt«, murmelte Henry, rannte die Treppe hoch, immer drei Stufen auf einmal nehmend, und stürzte in sein Arbeitszimmer. Er suchte auf dem Schreibtisch nach seinem Gezeitenbuch, sah es aber nicht. Wie seltsam! Er ließ es doch immer auf dem Schreibtisch liegen, der Bequemlichkeit wegen, weil er jedes Mal nachschaute, bevor er zur Kapelle hinausging, und auch regelmäßig Eintragungen vornahm. Hatte sie es genommen? Er hoffte inständig, dass sie nachgesehen hatte.
    Er suchte weiter und fand es schließlich im Bücherregal. Emma , stöhnte er innerlich. Ein Platz für alles und alles an seinem Platz, ob es ihm gefiel oder nicht. Er riss das Buch aus dem Regal und schlug die aktuelle Woche auf. Dann runzelte er die Stirn und blätterte zurück, zu den vorhergegangenen Tagen, um zu sehen, ob er einen Fehler gemacht hatte.
    Sein Finger fuhr abermals über die Spalte für den heutigen Tag und plötzlich schien sein Herz einen Schlag auszusetzen. Die Zeiten für heute waren falsch. Es war auch nicht seine Handschrift, wenn auch eine sehr gute Nachahmung. Er hob das Buch an und sah genauer hin. Himmeldonnerwetter! Irgendjemand hatte die Tinte weggekratzt – und mit ihr eine dünne Schicht Papier – und neue Zeiten aufgeschrieben. Falsche Zeiten.
    Gütiger Gott! Die Flut kam. Der Wind hatte zugenommen und ein Sturm braute sich zusammen … es war alles andere als sicher, jetzt zur Kapelle hinauszugehen. Es war lebensgefährlich!
    Er nahm die Zinnlampe mit dem Glasschirm, rannte aus dem Haus und zum Stall, zu seinem Pferd, riss dem Stallknecht die Zügel aus der Hand, stieg auf und trieb Major in den Galopp.
    Wie war Emma nur auf die Idee gekommen, Mr Smallwood sei ausgerechnet heute zur Kapelle hinausgegangen, was er doch noch nie getan hatte und wo er doch auf dem Weg zum Friedhof von Upton war?
    Irgendetwas stimmte hier nicht, aber ganz und gar nicht.

    Emma stand am Strand, an dem Punkt, wo der Sand aufhörte und die felsige Halbinsel begann. Sie blickte auf den Weg hinaus; die Wellen vom offenen Meer schlugen dagegen, sodass die Gischt über den gesamten Weg spritzte.
    »Papa, bist du da? Papa!«, rief sie zur fernen Kapelle hinaus, stellte jedoch schnell fest, dass alles Rufen vergebens war. Der Wind verschluckte ihre Worte im gleichen Moment, wie sie ihren Mund verließen, verschlang sie wie hungrige Möwen, die nach in die Luft geworfenen Brotkrumen schnappen.
    Sie hätte ihrem Vater begegnen müssen, wenn er schon zurückgegangen wäre, doch das war sie nicht. Aber sie würde keine Ruhe mehr finden und es sich nie verzeihen, wenn ihm etwas zustieß, das sie hätte verhindern können. Sie musste zur Kapelle hinausgehen. Sie würde sich beeilen und ihn bitten, gleich mit zurückzukommen, wenn er dort draußen war; auf jeden Fall hätte sie sich dann überzeugt, dass er nicht dort war.
    Hin und gleich wieder zurück. Jede Sekunde, die sie hier stand, stieg die Flut höher …
    Sie betrat den ersten Felsen.
    Während sie aufs Meer hinausging, nahm der Wind noch weiter zu, schlug ihr peitschend ihre Röcke um die Beine und löste ihre Frisur. Sie hielt den sich bauschenden Stoff fest, damit sie nach unten blicken und den Weg vor sich sehen konnte, um den nächsten Schritt einzuschätzen, den flachsten Felsen auszuwählen. Sie tröstete sich damit, dass sie zumindest nicht durchnässt wurde. Der Wind blies feuchten Nebel über ihre Wangen und durch ihre Strümpfe, aber die Wellen brachen sich noch mehrere

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