Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
Universität.«
Durch das Vorderfenster sah sie zu, wie der junge Mann am Schild des Smallwood-Pensionats vorbei den gepflasterten Weg hinunterging, und es überkam sie ein Gefühl der Wehmut, die sie immer verspürte, wenn ein Schüler ihr Haus verließ. Dieses Mal war es noch stärker, weil kein anderer Schüler nachfolgte, der seinen Platz einnahm.
Das Haus wirkte plötzlich viel zu still und leer. Wenn Mr Sims doch nur einen jüngeren Bruder hätte! Oder noch besser sechs jüngere Brüder.
Sie seufzte. Wahrscheinlich würde sogar der liebenswürdige Mr Sims zögern, Mr Smallwood weiterzuempfehlen angesichts der Tatsache, wie wenig ihr Vater sich tatsächlich um seine Ausbildung gekümmert hatte.
Doch wie sollten sie ohne Schüler ihre Haushälterin, die gleichzeitig als Köchin fungierte, bezahlen, ganz zu schweigen von den Rechnungen, deren Stapel täglich höher wurde?
Emma trat an den Schreibtisch im Wohnzimmer der Familie, holte das gebundene Wirtschaftsbuch heraus, das darin aufbewahrt wurde, und blätterte ihre früheren Listen durch:
In diesem Jahr zu lesende Bücher.
Im nächsten Jahr zu lesende Bücher.
Reparaturarbeiten in den Zimmern der Jungen.
Sparmaßnahmen.
Zu besuchende Orte.
Neue Texte und Lehrbücher für das nächste Trimester: keine.
Ablenkungen und Zerstreuungen, die Papas Laune bessern / erzielte Verbesserungen: keine.
Schüler pro Jahr.
Ihre Schülerlisten, die jedes Jahr kürzer geworden waren, enthielten unter anderem Anmerkungen über das Wesen des betreffenden jungen Mannes und über seine Pläne für die Zukunft.
Sie holte die Liste von vor drei Jahren hervor und fuhr mit dem Finger über die Namen, bis sie einen ganz bestimmten gefunden hatte.
Phillip Weston. Freundlich, liebenswürdig. Zweiter Sohn.
Möchte wie sein Bruder nach Oxford gehen und Jura studieren.
Die kurze Beschreibung wurde ihm allerdings nicht annähernd gerecht. Phillip Weston war von den vielen Schülern, die ihr Vater im Laufe der Jahre gehabt hatte, ihr einziger Freund gewesen.
Noch während sie an ihn dachte, suchte sie nach einer anderen Liste.
Voraussichtlich weitere Schüler: Rowan und Julian Weston?
Wieder dachte Emma an den Brief, den sie vor vierzehn Tagen abgeschickt hatte. Sie wusste, dass Henry und Phillip Weston zwei jüngere Halbbrüder hatten; Phillip hatte oft genug von ihnen gesprochen. Julian und Rowan mussten inzwischen mindestens fünfzehn sein – älter als Phillip, als dieser zu ihrem Vater in die Schule gekommen war.
Doch sie waren nicht gekommen.
Sie hatte schon mehrmals mit ihrem Vater über dieses Thema gesprochen und ihm vorgeschlagen, dem Vater der Jungen doch einfach zu schreiben, aber er hatte nur herumgedruckst, geseufzt und gesagt, wenn Sir Giles ihnen seine jüngeren Söhne schicken wollte, hätte er das schon längst getan. Viel wahrscheinlicher war, dass Sir Giles und seine zweite Frau Winchester Harrow oder Eton der bescheidenen Einrichtung der Smallwoods vorgezogen hatten.
»Aber es kann doch nicht schaden, einmal nachzufragen«, hatte Emma ihn gedrängt.
Doch ihr Vater hatte nur das Gesicht verzogen und gemeint, vielleicht später.
Schließlich hatte Emma, die in den letzten zwei Jahren immer öfter als Sekretärin ihres Vaters fungiert hatte, zur Feder gegriffen und anstelle ihres Vaters selbst an Sir Giles geschrieben – und ihn gefragt, ob er vorhabe, auch seine beiden jüngeren Söhne auf ihre Schule zu schicken.
Sie konnte noch immer kaum glauben, dass sie das wirklich getan hatte. Was war nur in sie gefahren? Doch im Grunde wusste sie es ja. Sie hatte kürzlich einen Bericht über die wagemutigen Reisen derrussischen Prinzessin Catherine Dashkow gelesen. Die Lektüre hatte sie zu einer ihrer seltenen Heldentaten – oder Torheiten, wie immer man ihren Brief bezeichnen mochte – inspiriert. Letztlich jedoch hatte ihr Schreiben nichts bewirkt. Der Mut, den sie aufgebracht hatte, war vergeblich gewesen; sie hatte keine Antwort erhalten. Sie hoffte nur, dass Sir Giles, falls ihre Nachfrage ihn verärgert hatte, nicht etwa seinem Sohn Phillip davon erzählte, der, wie sie vermutete, noch auf die Universität ging.
Emma blätterte eine Seite in ihrem Buch um, tauchte die Feder ins Tintenfass und begann eine neue Liste.
Maßnahmen zur Beschaffung weiterer Schüler.
Es klopfte am Türrahmen. Emma blickte auf. Da stand ihre Tante Jane; sie war wie gewöhnlich durch die Seitentür hereingekommen.
»Ist Mr Sims schon fort?«, fragte Jane lächelnd.
Weitere Kostenlose Bücher