Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
einfach nicht die Kraft dazu, Emma. Ich bin kein junger Mann mehr.«
»Komm schon, John«, sagte seine Schwester. »Du hast noch viele gute Jahre vor dir.«
Er seufzte. »Was für eine deprimierende Aussicht.«
Jane entgegnete mit einem Blick auf ihre Nichte: »Du musst auch an Emma denken, John, nicht nur an dich.«
Er zuckte die Achseln, offenbar war er nicht überzeugt. »Emma ist durchaus in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Genau wie du.«
Emma und ihre Tante wechselten abermals einen Blick.
Wenn Emma nicht bald etwas einfiel, wie sie ihrem Vater helfen konnte, würden sie in echte Bedrängnis geraten, finanzieller und anderer Art, ja vielleicht verloren sie sogar ihr Haus und die Schule – und damit die einzige Möglichkeit für ihren Vater und sie selbst, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Die folgenden beiden Tage durchforstete Emma ihr Gedächtnis und die Zeitungen nach den Namen von Familien mit Söhnen, die, soweit sie wusste, noch auf keine andere Schule gingen. Sie saß gerade am Schreibtisch, als Mrs Malloy mit der Tagespost eintrat. »Hier bitte, meine Liebe.«
Emma, die ganz steif geworden war vom Stillsitzen und sich dringend ein bisschen recken und strecken musste, stand auf und blätterte geistesabwesend den Stapel durch, wie immer die Angst vor Rechnungen oder Absagen im Nacken. Bei einem an ihren Vater adressierten Brief hielt sie inne. Der Absender lautete: Ebbington Manor, Ebford, Cornwall.
Ebbington Manor war das Anwesen von Sir Giles Weston und seiner Familie. Emma lief ein kleiner Schauer über den Rücken – Aufregung, gemischt mit Angst. Sie hatte die Hoffnung auf eine Antwort schon beinahe aufgegeben.
Da ihr Vater ihr die Korrespondenz überlassen hatte – insbesondere, seit fast nur noch deprimierende Rechnungen eintrafen, empfand sie nur sehr schwache Gewissensbisse, als sie das Siegel brach und den Brief entfaltete.
Mit einem letzten kurzen Aufflackern schlechten Gewissens blickte sie noch einmal zur Tür, dann las sie die Zeilen, die wie eilig hingeworfen wirkten:
Mein lieber Mr Smallwood,
vielen Dank für Ihren Brief und Ihr freundliches Interesse an meinen jüngeren Söhnen. Sie haben recht mit Ihrer Vermutung, dass sie das Alter erreicht – ja sogar überschritten – haben, in dem meine beiden älteren Söhne uns verließen, um ein paar Jahre bei Ihnen in Longstaple zu verbringen. Lady Weston ist jedoch der Ansicht, dass unsere jüngeren Söhne zu empfindsam sind, um längere Zeit von ihrer Mutter getrennt zu werden. Ich persönlich glaube zwar, dass diese Erfahrung für sie ebenso gut wäre wie für Henry und Phillip und zweifellos ihren Charakter stärken würde, doch ich fühle mich in dieser Angelegenheit genötigt, die Wünsche meiner Frau zu respektieren.
Ich nehme nicht an, dass Sie bereit wären, nach Ebbington Manor zu kommen und die Jungen hier zu unterrichten für ein Gehalt, sagen wir, doppelt so hoch wie Ihre Pensionskosten? Für uns wäre es das Beste, wenn Sie ein Jahr bei uns verbringen und die Jungen auf die Universität vorbereiten könnten. Ich weiß natürlich, dass das viel verlangt ist, insbesondere wenn man bedenkt, dass Sie Ihre Frau verloren haben, was zu hören mir sehr leidtat. Falls Ihnen jedoch ein Wechsel Ihrer Lebensumstände entgegenkommt, lassen Sie es mich bitte wissen. Wir würden uns sehr freuen. Ihre Tochter ist uns selbstverständlich ebenfalls willkommen.
Herzlichst Ihr
Sir Giles Weston, Baronet
Du meine Güte, was für eine Vorstellung! Ihr Vater sollte sein anerkanntes Institut aufgeben, um Hauslehrer für zwei Schüler zu werden. Das wäre wahrlich ein großer Gefallen! Viele junge Herren, die frisch von der Universität kamen und kein Privatvermögen hatten, verdingten sich als Hauslehrer bei reichen Familien. Aber anzunehmen, dass Mr John Smallwood sein Haus und sein Pensionat verließ, um das Gleiche zu tun … Emma war beinahe beleidigt an ihres Vaters Stelle. Hatte es sich vielleicht schon herumgesprochen, dass die Smallwoods in einer Notlage waren? Sie schnaubte und warf den Brief zu den anderen auf den Schreibtisch.
Da stand sie nun, immer noch ganz empört. Doch nachdem der erste Ärger verflogen war, las sie den Brief noch einmal durch. Eigentlich schrieb Sir Giles sehr höflich; der Ton, in dem er sein Anliegen vortrug, klang schon fast entschuldigend. Letztlich ging es ihm einfach darum, seinen Söhnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen, ohne dabei seine launische, verwöhnte Frau vor den Kopf
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