Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
zu stoßen.
Die erste Lady Weston, Phillips und Henrys Mutter, war gestorben, als die beiden Jungen noch sehr klein waren. Von Phillip wusste Emma, dass seine Stiefmutter, die zweite Lady Weston, etwas schwierig war und dass ihre eigenen Kinder ihr sehr viel wichtiger waren als ihre Stiefsöhne. Emma erinnerte sich, dass Phillip ihr sehr leidgetan hatte, als er sein angespanntes Verhältnis zu dieser Frau beschrieb.
Emma erinnerte sich nicht, dass Henry je über seine Stiefmutter gesprochen hätte, aber sie und Henry waren auch keine Freunde gewesen und hatten ohnehin nie über persönliche Dinge geredet.
Emma dachte an Ebbington Manor, einen Ort, den sie nie gesehen, sich aber oft in Gedanken ausgemalt hatte, hoch über den Klippen an der windumtosten Küste von Cornwall. Natürlich wäre es schön, Phillip Weston wiederzusehen. Doch dann fiel ihr ein, dass er ja in Oxford war, wahrscheinlich in seinem dritten Jahr am Balliol-College, und bestimmt nicht zu Hause saß und auf ihren Besuch wartete.
Sollte sie ihrem Vater den Brief zeigen? Wahrscheinlich würde er Sir Giles' Vorschlag nicht einmal in Erwägung ziehen, pflegte er doch jeden Tag viele Stunden am Grab seiner verstorbenen Frau zu sitzen. Und wenn doch – was sollte sie dann tun? Ihm einen Koffer packen und ihn für ein Jahr nach Cornwall schicken, während sie mit Tante Jane hierblieb?
Einerseits gefiel ihr dieser Gedanke sogar. Wie oft hatte ihre Tante ihr schon vorgeschlagen, ihr beim Unterrichten zu helfen und eines Tages das Mädchenpensionat sogar gemeinsam mit ihr zu führen –vorausgesetzt, sie war irgendwann bereit, ihren Vater sich selbst zu überlassen?
Doch ihr Vater brauchte sie. Emma half ihm nun schon seit Jahren. Mit der langen Krankheit ihrer Mutter hatte es begonnen und seit deren Tod, nachdem Emmas Vater in eine tiefe Depression abgeglitten war, blieb die Arbeit fast ausschließlich an ihr hängen. Im Moment würde er wohl gar nicht allein zurechtkommen. Doch auf Ebbington Manor wäre er einzig und allein für die Erziehung der Jungen zuständig und nicht mehr für die Verwaltung eines Pensionats, und er brauchte sich nicht mehr mit Tagesschülern, Mahnungen für Schulgebühren und Terminen mit dem Tanzlehrer, dem Zeichenlehrer und dem Französischlehrer abzuplagen. Ja, es würde ihm bestimmt guttun, wenn sein Aufgabenfeld etwas eingeschränkt wurde. Doch ganz sicher konnte Emma sich nicht sein, und der Gedanke, ihn ganz allein, auf sich gestellt, fortzuschicken, war kaum zu ertragen. Was, wenn er versagte? Wenn er sich blamierte und die Demütigung erleben musste, entlassen zu werden? In seinem gegenwärtigen Zustand war er einer solchen Erfahrung keinesfalls gewachsen.
Du regst dich völlig unnötig auf, Emma , schalt sie sich. Er wird sowieso nicht gehen .
Doch als sie die Sache nach dem Essen ansprach, reagierte ihr Vater ganz anders als erwartet. Sein Blick wurde plötzlich lebendig, seine Haltung straffte sich und er sah sie mit einer Begeisterung an, die sie seit Jahren nicht bei ihm wahrgenommen hatte.
»Hat Sir Giles uns wirklich eingeladen, zu ihnen zu kommen und dort zu leben?«, fragte er.
»Ja, aber …«
»Eine interessante Vorstellung …« Seine Augen schienen förmlich zu leuchten, während er nachdenklich zur Decke hochblickte.
»Vater, ich schwöre dir, ich habe mit keinem Wort auf ein solches Arrangement angespielt. Ich habe nur gefragt, ob er in Erwägung zieht, seine beiden jüngeren Söhne zu uns zu schicken.«
Ihr Vater nickte, schien jedoch nicht im Geringsten verärgert, weder über die Einladung noch über die Tatsache, dass sie den Brief geschrieben hatte.
Er bat darum, den Brief sehen zu dürfen, und sie ging ihn holen.
Er las ihn, nahm seine Brille ab und sagte: »Ehrlich gesagt, meine Liebe, sehne ich mich nach einer Veränderung. Hier in diesem Haus zu sein, Tag um Tag, Nacht um Nacht, an dem Ort, an dem meine Frau so lange gelitten hat … umgeben von Dingen, die voller Erinnerungen sind, aber nicht nur an die glücklichen Jahre, was ja schön wäre, sondern an die letzten Jahre, die schmerzlichen – was glaubst du, warum ich so oft weggehe?«
»Ich … ich dachte, du besuchst ihr Grab auf dem Friedhof«, sagte Emma leise.
Er zuckte die Achseln. »Ich gehe manchmal dorthin, um nachzusehen, ob das Grab auch richtig gepflegt wird. Dann reiße ich ein bisschen Unkraut aus oder setze neue Blumen. Aber ich gehe nicht hin, um sie zu besuchen. Sie ist nicht dort, Emma. Sie ist an einem sehr
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