Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
viel besseren Ort als auf dem Friedhof von Longstaple.«
Tränen standen ihm in den Augen. Emma kämpfte selbst mit den Tränen. Doch im Moment machte sie sich zu große Sorgen um die Zukunft, um die Vergangenheit betrauern zu können.
»Aber … Ebford ist … so weit weg«, stammelte sie. »Hoch oben im Norden von Cornwall.«
»Das ist doch gar nicht so sehr weit. Und es wäre ja nur für ein Jahr.« Er lehnte sich zurück und dachte nach. »Ich erinnere mich, wie Phillip Ebbington Manor beschrieben hat. Ein weitläufiges altes Haus, hoch auf den Klippen über dem Meer. Wunderschöne Fußwege an der Küste entlang …«
»Aber du wärst nicht dort, um die Küste entlangzuwandern«, rief ihm Emma in Erinnerung. »Du wärst dort, um zu unterrichten.«
»Ja, ich weiß. Aber wir hätten bestimmt genügend Zeit zum Spazierengehen.« Jetzt zögerte er zum ersten Mal. »Andererseits – du wirst mich vielleicht nicht begleiten wollen, meine Liebe. Du bist schließlich kein kleines Mädchen mehr.«
Emma stand auf und trat ans Fenster. In ihrem Kopf überstürztensich die Gedanken. Konnte sie das wirklich tun – einfach fortgehen, alles, was sie kannte, zurücklassen und ein Jahr in Cornwall leben? Sie spürte, wie sie die Beherrschung verlor und von Panik ergriffen wurde. »Ich … ich muss darüber nachdenken.«
»Natürlich, meine Liebe. Das kommt alles ein bisschen plötzlich. Ein richtiger Schock, wenngleich ein angenehmer, zumindest für mich. Aber überlege dir gut, was für dich das Beste ist. Ich überlasse die Entscheidung dir.«
Was für eine Verantwortung! Sollte sie, durfte sie die Einladung annehmen und unter einem Dach mit Henry und Phillip Weston leben? Zumindest während der Ferien würde Phillip anwesend sein. Wo sein älterer Bruder sich zurzeit aufhielt, wusste sie nicht.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie Henry Weston, seine kantigen Gesichtszüge, umrahmt von dunklen Locken. Seine unheimlichen grünen Augen, die sich drohend verengten, wenn er ihr befahl, sich aus seinem Zimmer zu scheren, oder wenn er ihr irgendeinen gemeinen Streich spielte.
Sie schauderte.
Unten hantierte jemand mit dem Kaminbesteck; Emma zuckte zusammen. Sei nicht albern , dachte sie und schüttelte das irrationale Gefühl ab.
Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Sie würde zu ihrer vernünftigen Tante gehen und die Sache mit ihr besprechen. Mit ihrer Tante Jane, die sie bestimmt nur ungern gehen lassen würde. Mit Tante Jane, die so gern davon sprach, dass sie und Emma eines Tages gemeinsam unterrichten würden. Mit ihrer reservierten Tante Jane, die ihr ganzes Leben lang die Aufmerksamkeiten der Männer abgewiesen hatte. Ja, Tante Jane würde ihr bei der Entscheidung helfen.
Und so saß Emma an diesem Abend in dem gemütlichen Wohnzimmer ihrer Tante, reichte ihr den Brief und wartete, während Jane las. Dabei wanderte ihr Blick von der schlichten, angeschlagenenTeetasse in ihrer Hand zu dem edlen, weiß-roséfarbenen Service – Tassen, Untertassen, Kuchenteller – im Eckschrank. Wie oft hatte sie dieses Geschirr schon bewundert! Einmal hatte sie Tante Jane gefragt, warum sie es nie benutzte, sondern schon jahrelang immer nur die alten, nicht zusammenpassenden Tassen und Untertassen gebrauchte.
»Es ist zu schade für den Alltag«, hatte sie gesagt. »Ich schone es.«
»Wofür schonst du es denn?«, hatte die kleine Emma gefragt. »Hebst du es auf für deine Hochzeit?«
»Meine Hochzeit? Du liebe Güte, nein!« Jane hatte abgewinkt und Emma in die Nase gekniffen. »Vielleicht für deine.« Doch plötzlich hatte ihr Blick abwesend gewirkt. »Ich … ich weiß nicht. Eines Tages werde ich es benutzen. Aber nicht heute.«
Auf einmal, beim Anblick des Geschirrs im Schrank hinter der Glasscheibe, zog sich Emmas Herz schmerzlich zusammen. Gegen ihren Willen war sie plötzlich traurig. Sie dachte an ihre eigene, ganz besondere Teetasse, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte. Emma staubte sie sorgsam ab und bewunderte sie, würde aber nie auf den Gedanken kommen, sie zu benutzen – sie hatte wahrlich nicht das Recht, ihrer Tante Jane Vorhaltungen zu machen.
Sie wandte den Blick wieder dem hageren Gesicht ihrer Tante zu, mit der markanten Nase und dem eigensinnigen Kinn. Jane hatte große grüne Augen, genau wie Emma. Emma liebte das Gesicht ihrer Tante, hatte es immer geliebt. Mit jedem Jahr, das verstrich, hatten sich die Linien um ihre Augen und auf ihrer Stirn vertieft. Doch es war, fand Emma, noch immer
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