Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
die Sonne war warm genug, sodass der Spaziergang trotzdem angenehm war. Sie atmete tief die kühle, frische Luft ein und konnte einen Moment lang verstehen, warum es ihren Vater und Männer wie Henry Weston so oft nach draußen zog.
Sie ging durch das hohe Gras, getupft mit Grasnelken und Glockenblumen, und blickte über das Land bis zu dem Punkt, an dem es zum Meer hin abfiel und die See sich ins Unendliche zu erstrecken schien. Als sie den Fußweg erreichte, der parallel zur Küste verlief, trat sie zögernd ein paar Schritte näher an den Rand der Klippe. Ihr Herz machte einen kleinen Satz, als sie sah, wie steil der zerklüftete Hang zu dem mit Geröll bedeckten Strand abfiel. Unten brachensich die Wellen in weißen Gischtbergen an den hoch aufragenden Felsen. Dahinter schimmerte die Sonne auf dem blaugrünen Wasser.
Wunderschön.
Sie blickte weiter hinaus, in westliche Richtung, so weit sie sehen konnte. Lag in dieser Richtung wirklich Amerika, ferner, als ihr Blick oder ihre Vorstellungskraft reichte? Sie hatte davon gelesen. Wie groß das Meer sein musste und wie klein sie sich bei seinem Anblick fühlte!
Emma erinnerte sich, gelesen zu haben, dass der Norden Cornwalls einer der am weitesten abgelegenen Landstriche der westlichen Halbinsel war. Jetzt konnte sie sich selbst überzeugen, dass das stimmte.
»Na, was halten Sie von unserem Kernow?«, fragte plötzlich eine raue Stimme dicht an ihrer Schulter.
Sie fuhr zusammen und blickte sich um. Hinter ihr stand der rothaarige Mann, den sie erstmals im Büro von Mr Davies gesehen hatte. Im Tosen des Windes hatte sie seine Schritte nicht gehört.
»Ich … ich glaube nicht, dass ich den Ausdruck schon einmal gehört habe«, stammelte sie, nervös, weil sie ganz allein mit dem Fremden war.
Er nickte. »So nennen wir Einheimischen das Land. Aber die Westons halten sich nicht für echte Kornen. Und wir sie auch nicht.«
»Aber die Westons leben doch schon jahrelang hier.«
»Sir Giles lebt jetzt in Ebb'ton, aber seine Vorfahren hatten das Land immer verpachtet. Sie kamen höchstens im Sommer hierher oder zu Geschäften; immerhin haben sie ihr Vermögen hier gemacht, im Bergbau. Diesen Geschäftszweig haben sie allerdings schon lange verkauft.«
Emma dachte darüber nach, dann widersprach sie: »Die Weston-Söhne sind alle hier auf Ebbington geboren und aufgewachsen.«
»Mag sein. Aber die beiden Älteren wurden weggeschickt, um den richtigen Akzent zu lernen.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass das nicht zum Lehrstoff meines Vaters gehörte.«
Er zuckte die Achseln. »Es spielt keine Rolle, was sie gelernt haben. Sie sind Gentlemen – andere tun die Arbeit für sie.«
»Und wovon leben Sie?«, fragte Emma kühn, weil sie dem Mann seine offensichtliche Verachtung ihrer Gastgeber übelnahm.
Er antwortete, als hätte sie die Frage ernst gemeint. »Die meisten Menschen hier leben vom Meer, sie arbeiten auf Schaluppen oder im Hafen, wo sie Frachtgüter auf die Schiffe schaffen oder abladen. Andere sind Fischer oder arbeiten in den Anlagen für die Sardinenverarbeitung. Und ein paar arbeiten in der Kalkbrennerei.«
»Und Sie, Sir?«
Er blickte hinaus auf den Atlantik, ein leichtes Lächeln auf den Lippen. »Man könnte sagen, dass ich ebenfalls vom Meer lebe.«
Obwohl sie sich noch immer keinen Reim auf die Verbindung des Mannes mit Ebbington Manor machen konnte, wollte Emma doch nicht weiterfragen; es schien ihr nicht ratsam, das Gespräch mit ihm in die Länge zu ziehen.
Hufschlag drang an ihr Ohr, sie blickte sich um und sah mit einer Mischung aus Erleichterung und Unmut, dass Henry Weston auf sie zugeritten kam, einen finsteren Ausdruck in seinem stolzen Gesicht.
Sie wandte sich wieder dem Rothaarigen zu, doch der war schon im Gehen. Er tippte sich noch an die Mütze, wartete aber nicht ab, bis Mr Weston bei ihnen war.
Henry zügelte sein Pferd und warf dem Mann einen bösen Blick hinterher, dann sah er Emma düster an. »Was hatten Sie mit dem Mann zu reden?«
Emma hob ihr Kinn und sah ihm in die Augen. »Er war es, der mit mir geredet hat. Ich war nur höflich.«
»Das sollten Sie aber nicht. Lassen Sie sich eins sagen, Miss Smallwood: Halten Sie sich von diesem Menschen fern.«
An diesem Abend stand Henry David Weston vor dem Spiegel und starrte hinein, während sein Kammerdiener Merryn noch einmalseinen Überrock abbürstete. Doch Henry sah nicht sein eigenes Gesicht im Spiegel, sondern das von Miss Smallwood.
Er dachte an ihr Gespräch
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