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Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)

Titel: Die Tochter des Hauslehrers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Klassen
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im Schulzimmer vor zwei Tagen. Er hatte gelogen, als er sagte, dass sie sich nicht verändert hätte. Denn sie hatte sich verändert, zumindest körperlich, seit er sie vor sechs oder sieben Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. Sie war noch immer groß und schlank, doch ihre Gestalt wirkte nicht mehr fohlenhaft tollpatschig, sondern biegsam und elegant. Ihr Gesicht hatte nichts Kleinmädchenhaftes mehr, sondern war klar und fein gezeichnet, mit hohen Wangenknochen und einem schönen, vollen Mund. Sie bewegte sich mit Anmut, ja mit Würde – wenn sie nicht gerade auf dem Boden des Schulzimmers auf den Knien lag. Er lächelte beim Gedanken an den ersten Anblick, den sie ihm auf Ebbington geboten hatte, wie ihre Kehrseite ihn begrüßt hatte, während sie vor ihren geliebten Büchern auf dem Boden lag.
    Wie seltsam, dass es ihm immer noch solchen Spaß machte, sie zu provozieren. Vielleicht lag es daran, dass sie stets so furchtbar zurückhaltend war und sich und ihre Gefühle jederzeit völlig unter Kontrolle hatte – vorausgesetzt, sie hatte überhaupt irgendwelche Gefühle. Sie hütete ihre Reaktionen und Worte, als trüge sie Zaumzeug und Trense und Gott selbst halte die Zügel in der Hand.
    Ihr Haar war ein wenig dunkler, als er es in Erinnerung hatte, goldbraun und sorgfältig frisiert; es hing ihr nicht mehr in blonden Strähnen ins Gesicht, wie er es von früher kannte. Vor allem aber waren ihm ihre Augen aufgefallen. Er hatte vergessen, dass sie grün waren, wie seine. Ein helles Grün, wenn sie nicht vor Ärger sprühten wie heute, als er sie zurechtgewiesen hatte, weil sie mit diesem Mann gesprochen hatte, einem ihr völlig Fremden – und dazu noch ganz allein. An ihren Zorn erinnerte er sich noch von früher – nur allzu gut.
    Er dachte an Miss Smallwoods Frage – ob er etwas dagegen habe, dass sie und ihr Vater sich auf Ebbington Manor aufhielten. Er hatte wahrheitsgemäß geantwortet. Normalerweise war er stolz auf seine Entschlussfreudigkeit. Er war ein Mann des klaren, schnellen Handelns. Dennoch wusste er noch immer nicht so recht, was er von ihrer Anwesenheit halten sollte. Natürlich brauchten seine Halbbrüder jemanden, der sie im Zaum hielt. Gerald McShane tat, was er konnte, doch Mr Smallwood hatte sehr viel mehr Erfahrung. Nur der Zeitpunkt war so verdammt schlecht. Dass der Lehrer und seine Tochter aber auch ausgerechnet in dieser Woche hatten eintreffen müssen, wo so viel in der Schwebe lag, so viel zu entscheiden war. Und Lady Weston verlangte zudem noch immer äußerste Geheimhaltung. Mit Emma Smallwood im Haus würde es doppelt so schwer sein, das Geheimnis zu wahren. Sie war schon immer klüger gewesen, als für sie selbst gut war.
    Oder für ihn.

6

    Erfahrung ist eine teure Schule, aber Narren wollen anderswo nicht lernen.
    Benjamin Franklin
    Am Sonntagmorgen waren die Smallwoods eingeladen, zusammen mit der Familie Weston in die Kirche zu gehen – genau genommen wurde es von ihnen erwartet.
    Zur festgesetzten Stunde versammelten sich alle in der Halle, bis die Kutschen und Karren draußen vorfuhren. Alle außer Henry Weston. Niemand verlor ein Wort über seine Abwesenheit, auch nicht Emma. Anscheinend ging er nicht mit seiner Familie zusammen in die Kirche. Warum bin ich nicht überrascht? , dachte sie, alles andere als freundlich. Doch dann bekam sie ein schlechtes Gewissen, denn in den letzten zwei Jahren war sie nur in die Kirche gegangen, weil man es von ihr erwartet hatte. Seit dem Tod ihrer Mutter war ihr Verhältnis zu Gott nicht mehr das allerbeste.
    Emma trug ihr langärmeliges dunkelblaues Kleid mit hoher Taille. Im Ausschnitt steckte ein weißes Spitzentuch. Als sie die anderen Damen betrachtete, dachte sie, dass sie eine gute Wahl getroffen hatte; Lady Weston und Lizzie hatten ebenfalls sehr schlichte Kleider, Mäntel und Hauben gewählt. Die Männer trugen schwarze Gehröcke, schlichte Westen und Krawatten und schwarze Biberhüte. Männer hatten es leicht, dachte Emma, sich für jede Gelegenheit passend anzuziehen.
    Da es in dem kleinen Dorf Ebford keine Kirche gab, besuchte die Familie den Gottesdienst im Nachbardorf Stratton. Sir Giles, Lady Weston, Lizzie, Rowan und Julian fuhren im großen Landauer der Familie, dessen Verdeck zum Schutz vor dem feuchten Nebel hochgeschlagen war. Auf dem Bock saß der gut gekleidete Kutscher.
    Mr Smallwood und Emma hatten auf dem Rücksitz eines zweirädrigen Einspänners Platz genommen, der von Mr Davies gelenkt wurde. Neben ihm

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